Zwischen Glaube und Zweifel: Die verlorenen Träume von Clemens Erwe

Von Julia Hartmann (Recherche: Julia Hartmann und Christian Heinz; Transkription (Sütterlin): Leon Pätzold und Stadtarchiv Bad Camberg)

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Ein paar Blätter Papier nur, könnte man meinen. Aber sie sind in handschriftlichem Sütterlin verfasst, etwa 90 Jahre alt. Es handelt sich um eine Übungspredigt aus dem Theologiestudium. Die Zeilen stammen aus der Feder von Clemens Johann Erwe (geb. am 28. September 1911 in Eisenbach, gest. am 20. März 1942). Seine Eltern sind Heinrich und Anna Erwe, geb. Lehr. Clemens hat drei Brüder (Heinrich, Franz, Josef) und drei Schwestern (Franziska, Maria, Käthe). Er stammt aus armen Verhältnissen und ist der Einzige in der Familie, der studieren gehen kann. Nach dem Besuch der Volksschule in Eisenbach von 1917 bis 1925 und der Knabenschule in Camberg (1925-1927) erhält er schließlich 1933 am Kaiser-Wilhelms-Gymnasium zu Montabaur das Zeugnis der Reife und beginnt mit dem Theologiestudium. Der Zweite Weltkrieg besiegelt aber sein Schicksal – wie bei so vielen jungen Männern, die zu Soldaten werden: Kurz vor Ausbruch des Krieges bricht er das Studium aufgrund einer Erkrankung ab. Er fällt 1942 – mit 30 Jahren – auf der Krim. Der folgende Artikel ist ein Mix aus Fakten und Fiktion – so oder so ähnlich könnten die Zeilen auf dem Papier zustande gekommen sein.

Mitte der 1930er-Jahre, Eisenbach

Es ist ein lauer Sommerabend, irgendwann Mitte der 1930er-Jahre. Das Fenster vor sich geöffnet, sitzt ein junger Theologiestudent von Sankt Georgen (Frankfurt) an seinem Schreibtisch und lauscht den Geräuschen von draußen. Vor ihm liegt ein Stapel Blätter, der Füllfederhalter daneben. Er überlegt. Sein Theologieprofessor hat ihm und seinen Kommilitonen die Aufgabe gegeben, eine Übungspredigt zu verfassen und diese dann im Seminar zu halten. Das Thema hat er schnell gefunden: „Die Heiligen“. Clemens Erwe, so heißt der angehende Priester aus Eisenbach, will folgende Botschaft formulieren: „Lernet von dem heiligen beharrlichen Opfermut!“ Nun heißt es, einen roten Faden zu finden, den Gedankengang stringent weiterzuentwickeln.

„Das sind jene, die aus der großen Drangsal kommen, aber ihre Gewänder weißgewaschen haben im Blute des Lammes.“

Offenbarung 7:14

Clemens schießt ein Gedankenblitz durch den Kopf. Er zückt seinen Füller und schreibt eifrig los:

„Sie übten Opfermut, denn es waren demütige Menschen und Demut ist Opfermut; denn sie fordert

1. Beobachtung der göttlichen Gesetze im allgemeinen

2. schärfsten Kampf gegen pharisäischen Stolz um Selbstgerechtigkeit im besondern.“

Er nickt beim Schreiben. Die Geräusche von draußen – zwei Nachbarn halten einen Plausch unterhalb seines Fensters – hat er nun vollkommen ausgeblendet. Wir sehen hinein in das Reich der Seligen, murmelt Clemens vor sich hin. Er nickt, hält inne, schreibt:

„Da sehen wir eine große Schar, die niemand zu zählen vermochte, aus allen Völkern, Stämmen, Geschlechtern und Sprachen. Aus allen Völkern kommen sie. Nicht ein Volk hat sie geboren. Nicht nur eine Nation darf sich rühmen, bluts- und Stammesbrüder am Thron Gottes zu haben. Aus den verschiedensten Ständen kommen sie. Zu den verschiedensten Zeiten haben sie gelebt; nicht nur zur Zeit der jungen Kirche, die in gewaltigem Siegeszuge eine Welt eroberte, nicht nur im Mittelalter, auch in den letzten Jahrhunderten, auch zu unserer Zeit, zu allen Zeiten. Auf verschiedenen Wegen haben sie den Berg der Glorie erstiegen. Nicht alle begeisterten sich für das das gleiche Frömmigkeitsideal. In seinen besonderen Zeitverhältnissen stehend in seinem Volke lebend, wirkte ein jeder nach seiner persönlichen Eigenart und seelischen Ausstattung sein Heil.“

Auszüge aus der Predigt

So klingt es gut, so passt es, denkt sich Clemens. Ich will herausstellen, dass es vollkommen zeitunabhängig ist, dass in der Vielfalt unserer Welt aus allen Erdteilen Heilige stammen. Dass sie verschiedene Sprachen sprechen, unterschiedlichen Völkern, Stämmen und sozialen Schichten angehören. Und dadurch natürlich auch geprägt sind. Viele denken zu klein, zu engstirnig, und sehen nur das Nahe, Gleiche, Gleichartige. Er seufzt und reibt sich die Augen. Es dämmert schon, er sieht die niedergeschriebenen Sätze kaum noch. Doch erst morgen weiterschreiben? Wo er gerade einen roten Faden gefunden hat?

Eines haben die Heiligen aber alle gemeinsam, denkt sich Clemens. Sie kommen alle aus Verfolgung, Leid, Bedrängnis.

„Aus einer großen Drangsal kommen alle, aus einem harten Kampfe. Kämpfen aber heißt opfern, heißt verzichten; und siegen heißt ausharren, treu bleiben im Opfern bis zum Erfolge. Die Heiligen kämpften, sie opferten also. Die Heiligen siegten, sie blieben also treu, sie harrten aus. Verschieden ist der Tugendglanz, in dem ihr Leben erstrahlt. Opfermut und Treue aber, die leuchten uns entgegen im Leben eines jeden Streiters Christi. Wir wollen darüber ein wenig nachdenken, um daraus Anregung und Kraft zu schöpfen, damit auch wir treu ausharren im Ringen um unser ewiges Heil.“

Für ihn sind die Heiligen ein Vorbild. Clemens weiß, was es heißt, mit sich zu kämpfen, zu hadern, auszuharren. Gut, dass ich den Josef habe, denkt Clemens. Sein Bruder Josef ist sein enger Vertrauter. Wie oft sind wir beide spazieren gewesen, wie oft hat mir mein Bruder Mut zugesprochen, als ich zweifelte oder unsicher war, als es mir nicht gut ging und ich jemanden brauchte, der mir zuhört. Er schielt hinüber auf seinen Nachttisch, wo ein geöffneter Brief liegt. Er stammt von seinem Bruder Heinrich, der sich – wie sein Bruder Franz – im Raum Köln als Maurer verdingt. Die drei Schwestern Franziska, Maria und Käthe sind noch im Haus, aber zu Josef hat Clemens einfach den besseren Draht. „Uns Clemens“, sagt Josef immer stolz, wenn er von seinem Bruder Clemens erzählt. Clemens hat jetzt Schwierigkeiten, sich auf den vor ihm liegenden Text zu konzentrieren. Seine Gedanken schweifen weiter ab. Er denkt an seine Schulkameraden, die wie er im März 1933 das Reifezeugnis am Kaiser-Wilhelms-Gymnasium zu Montabaur erlangt hatten. Diese fünf Jahre waren sehr unbeschwerte Jahre gewesen. Clemens seufzt. Seitdem er das Studium der Theologie in Sankt Georgen aufgenommen hatte – sein Traumberuf und seine Berufung, Pfarrer zu werden – hatte er immer wieder phasenweise mit Zweifeln und einer Antriebslosigkeit zu kämpfen, die er jedoch meistens verstecken, überspielen konnte. Sein Stift zittert leicht in seiner Hand. Doch ich will nicht zweifeln! Er hat sein klares Ziel vor Augen. Schon im Gymnasium hatte man ihm bescheinigt, den richtigen Beruf gewählt zu haben. Im Sittenzeugnis der Schule vom 29.03.1933, das er bei seinem Gesuch um Aufnahme in die Theologische Lehranstalt in Frankfurt mit eingereicht hatte, hieß es, er sei ein zuverlässiger junger Mann mit einem klaren Urteil, nüchtern und sachlich, stets gewissenhaft und religiös eifrig. Der Studienrat Gräf hatte gar festgehalten, Clemens sei „stets unbestreitbar der Beste in der Klasse“ gewesen, zwar still und wenig aktiv, aber stets eifrig und gründlich. „Seiner Aufnahme in das Priesterseminar steht kein Bedenken entgegen“, hatte der Studienrat abschließend formuliert.

Und auch gesundheitlich stand seinem Studium 1933 nichts im Wege. Dr. Thiele aus Niederselters hatte ihm doch, als er ihn im März 1933 untersuchte, „als vollkommen gesund befunden“. Auch im Studium erhält er Lob: So bescheinigte ihm die Universität zuletzt, „konsequent und zielbewusst“ zu arbeiten. Ich will mich nun auf meine Aufgabe, meine Predigt weiter konzentrieren, sagt sich Clemens.

Sittenzeugnisse für Clemens Erwe von 1933, Bildquelle: DAL, BB/8, Nr. 311.

Clemens wird geweckt, als die ersten Sonnenstrahlen ihn blenden. Er stöhnt, sein Nacken. Er war beim Schreiben wohl eingeschlafen und hatte eine ungünstige Schlafhaltung eingenommen. Er schaut hinüber zu seinem Bett, das noch ordentlich bezogen ist vom Vortag. Er blickt auf das Papier vor sich und liest nochmal die letzten Sätze des Abends:

„Die Heiligen kämpften! Jedoch nicht als wilde Draufgänger, die niedertreten und zerstören; nein! Kämpfend bauten sie auf! Sie kämpften den Kampf, den der Bürger des neuen Gottesreiches zu bestehen hat. Sie formten aus sich den neuen Menschen nach den Richtlinien des Reichsgottesprogramms, wie wir sie hören im Evangelium des Allerheiligenfestes. Sie mußten sein: arm im Geiste, trauernd, sanftmütig, sie mußten hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, sie mußten sein: barmherzig, herzensrein, friedensliebend und verfolgt um der Gerechtigkeit willen. ‚Selig die Armen im Geiste‘ das nennt der Heiland an erster Stelle.“

Beim Lesen streicht sich Clemens durch die Haare. Ja, so ist es, denkt er sich. Das ist es doch, worauf es ankommt: Kämpfen, aber nicht kämpferisch im Sinne von Zerstörung, Unheil, Leid. Davon gibt es genug auf dieser Welt. Sondern damit ist Demut gemeint. Er schüttelt den Kopf und schnalzt mit der Zunge. Wahrlich keine Tugend der heutigen Zeit. Obwohl sein Magen laut knurrt und sicherlich gleich die Mutter zum Frühstück rufen wird, setzt er erneut mit dem Stift an:

„Das ist die erste, die Grundforderung. Arm sein im Geiste! Demütig vor Gott stehen im Bewußtsein der eigenen geistigen Armut und Hilfsbedürftigkeit vor ihm sich beugen, das ist der Lebenskampf des Heiligen. Das klingt eigenartig. Und gleich erhebt sich eine ganze Welt gegen uns, die in billigem Spott oder aber mit giftigem Haß uns entgegenhält: ‚In Demut vor Gott sich beugen‘ soll Kampf bedeuten? Das ist feige Knechtsgesinnung, ist Verkümmerung edlen Menschentums. Wir sind die kämpferischen Menschen, die in sich mit aller Kraft das Bild des freien Herrenmenschen formen, der sich durch keine Macht in die Knie zwingen läßt. Wir können uns nicht für Menschen begeistern, die in sich das Bewußtsein der Schwäche und Ohnmacht gerade aufzüchten, die in elendem Kriechertum sich dauernd hilfesuchend an höhere Mächte klammern. Das ist vielfach die Sprache der modernen Welt.“

„Clemens?“, es klopft. Seine Mutter Anna steht schon im Türrahmen, als er sich umdreht. „Bist du schon wieder über den Aufgaben eingeschlafen?“, fragt sie lächelnd mit einem strengen Unterton. „Du bist so tüchtig, aber gesunder Schlaf ist wichtig! Nun komm‘ zu uns in die Küche. Es gibt Frühstück.“ Clemens nickt. Ihm wird wieder bewusst, wie stolz es seine Eltern macht, dass er als einziger Sohn zum Studieren gehen kann. Er weiß auch, welche Kraftanstrengung dies seine Eltern kostet. Statt auf den Feldern helfen zu können wie seine Geschwister, bekommt er den Freiraum für seine Aufgaben, sein Theologiestudium, an dem sein Herz hängt. Er schiebt den Stuhl aus Holz zurück, der zum Schlafen tatsächlich viel zu unbequem ist, und macht sich – noch völlig in Gedanken über die moderne Welt – auf den Weg zur Küche, immer dem Duft von frisch gebackenem Brot folgend.

Dezember 1937

Gute bis sehr gute Noten, sechs Semester lang. Auch das Zeugnis zum Examen Philosophicum hat Clemens am 14.03.1935 erhalten. Auf das Urteil des Prüfers zu seiner schriftlichen Freiklausur im Fach Religionsphilosophie ist Clemens heute noch stolz. Zum Thema „Die Universalität der Religion“ hatte er seine Arbeit verfasst und die Note 1-2 erhalten: „In der Arbeit ist sicher noch vieles unvollkommen: Darstellung breit, umständliche Gedankenentwicklung, nicht genügende Scheidung und Wertung der benutzten Literatur, Mangel an Akribie. Aber die Arbeit hat etwas, wodurch sie sich hoch über viele andere erhebt und beste Hoffnungen weckt: Verf. fasst sein Thema selbständig an und zeigt den ernsten, energischen Willen, sich zur Wahrheit durchzuringen. Was er sagt, ist im allgemeinen zutreffend. Mehr Lob aber der Einzelinhalt verdient die Gesamtauffassung und Einarbeitung.“

Umso mehr gibt es ihm einen Stich ins Herz, das aufzugeben, für das er brennt. Der Arzt hatte ihm zu einer längeren Erholung geraten, denn Clemens fühlt sich stark überarbeitet. Deshalb weilt er schon seit dem 3. Dezember wieder in Eisenbach, bei seiner Familie. Bislang geht es Clemens aber noch nicht wirklich besser. Die Weihnachtsfeiertage will ich noch abwarten, denkt er sich, dann werde ich nochmal Dr. Sack in Frankfurt aufsuchen.

In einer Beurteilung von Herrn Zander (Sankt Georgen) beschreibt ihn dieser 1937 wie folgt: „Lebt sehr still und zurückgezogen. Ist treu und pflichteifrig, tut unbeirrt seine Pflicht, auch wenn ihm Nachteile daraus erwachsen. Allerdings zeigt er eine gewisse Starrheit, aus der heraus er im Umgang mit Menschen oft nicht allzu geschickt ist. Sein ganzes Wesen ist schlicht und unaufdringlich, zeigt aber durchaus innere Kraft und Festigkeit.“

„treu und pflichteifrig, tut unbeirrt seine Pflicht“, Bildquelle: DAL, BB/8, Nr. 311.

1938-1939

Am 24. Februar 1938 geht ein Schreiben von Sankt Georgen an das Bischöfliche Ordinariat Limburg. Darin wird über den vorläufigen Abbruch des Studiums von Clemens Erwe informiert und auf das „Urteil des Nervenarztes Dr. Sack“ hingewiesen. Das ärztliche Zeugnis von Dr. Med. Herbert Sack in Frankfurt ist auf den 24. Januar 1938 datiert und spricht von „psychische[n] Veränderungen auf dem Gebiete des Gemütslebens und der Willensvorgänge […], der Eindrucksqualitäten und des Körpergefühls“. Er schreibt weiter, dass eine Behandlung in einer Heilanstalt (Trier) notwendig sei.

Im Sommer 1938 erholt sich Clemens deshalb im Sankt Josefskrankenhaus zu Simmern, im Hunsrück. Diese Möglichkeit zur Erholung habe ihm „Herr Caritasdirektor Lamay“ vermittelt, hält Pfarrer Weis aus Eisenbach in einem Schreiben 1938 fest. Clemens verbleibt acht Wochen lang in dem Krankenhaus.

Hier im Hunsrück kann ich die Natur genießen, denkt sich Clemens bei einem Spaziergang. Hier benötige ich auch keinen Arzt. Das habe ich heute auch Schwester Lorenzina persönlich gesagt. Gerade die Spaziergänge tun mir gut und hier kann ich meine Gedanken schweifen lassen. Die ersten Wochen blieb Clemens lieber auf seinem Zimmer, doch dann schloss er sich den Gefolgschaftsausflügen an die Mosel und nach Bornhofen an. Das war recht vergnüglich, denkt Clemens zurück. Auch die Fichtennadelbäder und Abwaschungen zur Stärkung und Kräftigung haben gutgetan. Zu Hause – ob in Frankfurt oder in Eisenbach – fühle ich mich in die Enge getrieben. Von mir selbst, von meinen Gedanken, selbst von meinem Traum, Pfarrer zu werden. Obwohl ich im Studium alles aus mir herausgeholt habe, obwohl mir die Semesterzeugnisse bescheinigen, auf dem richtigen Weg zu sein, so habe ich doch keine Kraft mehr. Wie soll ich da eine Pfarrei anführen? Auch die Politik ist hier im Hunsrück weit weg. Nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich kann man förmlich spüren, wohin es sich entwickelt. Clemens fürchtet, ein Krieg könne ausbrechen und seine Brüder dann eingezogen werden. Die allgemeine Wehrpflicht war 1935 wieder eingeführt worden. Die Stimmung in Frankfurt ist schon seit Längerem furchteinflößend, denkt sich Clemens und lässt sich auf einer Bank nieder. Kommilitonen hatten ihm berichtet, dass die Menge applaudiert habe, als sich der Führer bei seinem Besuch am 31. März in Frankfurt auf dem Söller des Römers zeigte.

Auf eigenen Wunsch beendet Clemens Anfang August 1939 sein Theologiestudium. Am 1. September 1939 überfällt Hitlerdeutschland Polen, der Zweite Weltkrieg bricht aus.

1940-1942, Militär- und Kriegszeit

Wann Clemens seine Einberufung zum Militär erhielt, konnte leider nicht ermittelt werden. Eine Anfrage bei dem Bundesarchiv Abteilung Personenbezogene Auskünfte (PA) mit Sitz in Berlin ergab immerhin die genaue Bezeichnung der Einheit, der Clemens im Jahr 1942 bis zuletzt angehörte: 12. Kompanie des 105. Infanterie-Regiment (der 72. Infanterie-Division).

Die Abteilung PA (bis 2018 „Wehrmachtauskunftsstelle“ (Wast)) teilte mit, dass erstmalig 1940 gemeldet wurde, dass Clemens Erwe einer Einheit angehörte und zwar der 3. Kompanie des Infanterie-Ersatz-Bataillon 80. Da diese Einheit auf seiner Erkennungsmarke eingestanzt wurde, impliziert, dass er in dieser Einheit auch seine Ausbildung erhielt. Noch im Jahr 1940 wurde er zum 105. Infanterieregiment versetzt, dort in zwei verschiedene Kompanien eingeteilt und schließlich – noch 1940 – der 12. Kompanie desselben Regiments zugeteilt.

Clemens war höchstwahrscheinlich einfacher Infanterist im Zeitraum von 1940 bis 1942, wo er somit durchgehend der Wehrmacht angehörig war und zuletzt den Rang eines Gefreiten innehatte.

Wahrscheinlich wurde er 1940 eingezogen, vielleicht auch schon 1939, spätestens aber im Februar 1940 (hier wurde der Jahrgang 1911 voll einberufen). Fakt ist, dass er im Oktober 1941 auf dem Boden der UdSSR stand und zwar konkret auf der Krim, wie seine Gräberkartei der Abteilung PA verrät.

Karteikarte der Wehrmacht zu Erwe, Clemens, die seine Personalien, Truppenangaben und die genauen Umstände des Verlustes enthält. Bildquelle: BArch, B 563-2 KARTEI/G-A 92/451

20. März 1942, Korpech/Krim

Es ist Freitag, der 20. März 1942. Mitten in der Steppe liegt das Dörfchen Korpech (gesprochen: Korpetsch). Gestern hatten sowjetische Truppen die deutschen Einheiten der Wehrmacht bereits leicht zurückdrängen können. Auch Clemens ist mit weiteren Kameraden seiner Einheit und von anderen Einheiten hierhin, auf die Krim, in diese Einöde, geschickt worden, um einen deutschen Panzerangriff gegen die feindlichen Stellungen zu unterstützen. Hoffentlich geht es für alle gut aus und wir kommen heil hier raus, denkt Clemens. Er spricht, wie so oft zuvor, das Vater Unser.

Doch der 20. März soll kein guter Tag für die Wehrmacht werden. Clemens und seine Kameraden liegen in der Stellung. Sein rechter Oberschenkel macht sich kurz bemerkbar. Am 28. Oktober 1941 hatte er sich in Magasinka (nördliche Krim) diese Verletzung zugezogen. Seitdem rebelliert sein Bein hin und wieder. Aber andere Kameraden hatte es weitaus schlimmer getroffen. Dieser Krieg bringt doch nichts als Leid, denkt sich Clemens. Seine Gedanken wandern kurz zu seiner Familie, seinen Eltern, seinen Geschwistern. So fern von der Heimat schmerzt es, sie so lange nicht sehen zu können. Wie es ihnen bislang wohl ergangen ist? Die Feldpost ist nicht verlässlich und wann er diese Steppe verlassen wird, ist ungewiss. Auf einmal: Beschuss. „Los, Männer!“, ruft irgendjemand. Wahrscheinlich der Unteroffizier. Doch bei diesem Kugelhagel kann es Clemens gar nicht genau sagen.

„Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen“, murmelt Clemens vor sich hin. „Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.“ Wieder Beschuss. „Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.“

An diesem 20. März 1942 erleiden die deutschen Einheiten hohe Verluste. Auch Clemens Erwe ist darunter. Später wird man seinen Leichnam zwei Kilometer ostwärts von Korpech finden und ihn anhand seiner Erkennungsmarke eindeutig identifizieren können. Er stirbt wahrscheinlich durch einen Kopfschuss. In der Gräberkarte wird am 8. Juni 1942 festgehalten, dass er durch eine Kopfverletzung zu Tode kam.

Letzte Ruhe und Andenken

Laut Sterberegister ist Clemens Erwe am 20. März im Alter von 30 Jahren, in Bachgrund, bei Korpech auf der Krim zum Übergang auf die Halbinsel Kertsch gefallen und hat seine letzte Ruhestätte in der Kriegsgräberstätte in Sewastopol – Gontscharnoje gefunden. Sogar die genaue Grablage ist bekannt. Dies liegt vor allem daran, dass er in einer frühen Phase des Krieges gefallen ist, in der die Meldewege über Todesfälle noch funktionierten.

Am 20.04.1943 wird auf der Gräberkartei festgehalten, dass der Sterbefall am 16.10.1942 unter der Registrierungsnummer 13/1942 durch das Standesamt Eisenbach beurkundet wurde. Die Eltern und weiteren Angehörigen von Clemens müssen also irgendwann zwischen dem 08.06.1942 und dem 13.10.1942 die Mitteilung von dessen Tod und den Umständen erfahren haben, obwohl aus unbekannten Gründen auf der Gräberkartei die Adresse der nächsten Angehörigen nicht vermerkt wurde. Das Standesamt Eisenbach hat dann an die Wast in Berlin zurückgemeldet. Leider ist der Brief an die Eltern, in dem vom Tode Clemens berichtet wurde, nicht erhalten geblieben und leider auch keine sonstigen Militärdokumente von ihm.

Clemens wurde zunächst auf dem Kriegerfriedhof bei Wladislawoka auf der Krim bestattet, ganz in der Nähe, wo er gestorben ist. Dann wurde er anscheinend auf demselben Friedhof der 46. Infanteriedivision aus unbekannten Gründen in ein anderes Grab umgebettet. Dies war die letzte Umbettung während des Krieges.

Dann ist für Jahrzehnte kein Eintrag mehr verzeichnet – erst wieder im 21. Jahrhundert. Eine Anfrage der Abteilung PA in Berlin vom 23.08.2010 ergab, dass der Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge seine sterblichen Überreste am 03.10.2005 von dem ehemaligen deutschen Soldatenfriedhof Wladislawoka auf den zentralen Soldatenfriedhof für alle deutschen Gefallenen auf der Krim nach Sewastopol umgebettet hat, wo Clemens seine letzte Ruhestätte gefunden hat.

Sein Name ist auf dem Eisenbacher Ehrenmal festgehalten sowie in dem Gefallenen- und Vermisstenbuch. Was von Clemens Erwe bleibt, ist ein Foto und seine Predigt sowie seine sterblichen Überreste, fern der Heimat bei Sewastopol bestattet.

Karte aus der Kartei der Verlust- und Grabmeldungen mit Informationen über Clemens‘ Verwundung und Mitteilungen über sein Kriegsschicksal. Bildquelle: BArch, B 563-1 KARTEI/E-599/242.

HStAM Best. 912 Nr. 1059 Bearbeitungen und Veränderungen sind mit einem Veränderungshinweis zu versehen (vgl. § 9 (5) Nutzungsordnung des Hessischen Landesarchivs vom 20.12.2019, StAnz. 4/2020 S. 89).

Der Auszug aus dem Sterberegister zu Clemens Erwe. Die Umstände zu seinem Tod wurden vom Standesbeamten Reichwein eingetragen nach der schriftlichen Anzeige der Wehrmachtauskunftstelle für Kriegsverluste und Kriegsgefangene vom 13. Oktober 1942. Todesursache: gefallen. Bildquelle: HStAMR Best. 912 Nr. 1059.

Quellen:

Übungspredigt von Clemens Erwe, vermutlich aus den 1930er-Jahren. Transkription der Predigt durch das Stadtarchiv Bad Camberg: Herzlichen Dank für die Unterstützung! Zur besseren Lesbarkeit wurde der Originaltext minimal angepasst.

Diözesanarchiv Limburg (DAL): Bestand BB/8, Nr. 311. Personalakte von Clemens Erwe. Einsichtnahme am 24.09.2024.

Bundesarchiv Abteilung PA: Auskunft zu Clemens Erwe, 19.09.2024.

Personenkartei. Einträge zu Clemens Erwe in den Erkennungsmarkenverzeichnissen und Veränderungsmeldungen der Wehrmacht. BArch, B 563-2 KARTEI/G-A 92/451.

Karte zu Clemens Erwe aus der Kartei der Verlust und Grabmeldungen. BArch, B 563-1 KARTEI/E-599/242.

Loni Hartmann: Erinnerungen, August 2024.

Standesamt Eisenbach Sterbenebenregister 1942 (HStAMR Best. 912 Nr. 1059).

Eisenbacher Gefallenen- und Vermisstenbuch.

Institut für Stadtgeschichte: Frankfurt am Main 1933-1945. https://www.frankfurt1933-1945.de/chronologie (letzter Zugriff: 25.09.2024).

Informationen zum Zweiten Weltkrieg sowie zum Kriegsgeschehen im März 1942 auf der Krim:

https://lmy.de/hzAnx (letzter Zugriff: 27.09.2024).

https://lmy.de/IQdVp (letzter Zugriff: 27.09.2024).

https://www.bundesarchiv.de/im-archiv-recherchieren/archivgut-recherchieren/personen-und-familienforschung/militaerische-verbaende-und-einheiten-bis-1945/ (letzter Zugriff: 27.09.2024).

https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Gliederungen/Korps/XXXXIIKorps-R.htm (letzter Zugriff: 27.09.2024).

https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Soldat/Wehrdienst.htm (letzter Zugriff: 28.09.2024).

 

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