Die Kleinstadt Bensen am Polzen (tschechisch: Benešov nad Ploučnicí) zählt etwa 4.000 Einwohner. Sie liegt in Nordböhmen. Es ist eine schöne, alte Kleinstadt. Die beiden Schlösser und die Herrenhäuser zeugen von einer handelsreichen Zeit im Mittelalter.
Es war der 20. Juni 1945. In den Straßen der kleinen Stadt Bensen in Nordböhmen wurden Plakate mit der Aufschrift „An alle Bewohner des Doberbergs“, dem „Hausberg“ des Städtchens, angebracht. Am Folgetag, so hieß es auf diesen Plakaten, sollten sich alle deutschen Bewohner um fünf Uhr an der Kirche versammeln zur Ausreise aus der Tschechoslowakischen Republik. 1945 wohnten in dieser Gegend fast 92 Prozent Deutsche.
Dies betraf auch die Familie Schieche, Mutter Marie, Vater Emil und die vier Kinder Christel, Horst, Jetti (Henriette) und Helmut. Den Eltern blieben nur wenige Stunden, um das Nötigste für sich und die Kinder einzupacken und auf einem Handwagen zu verstauen. Da der Kleinste – vier Jahre alt – kränkelte und zu schwach zu Fuß war, wurde er in einen Kinderwagen gesetzt.
Der 21. Juni 1945 war Jettis 11. Geburtstag. Zu feiern war aber niemandem zumute. Ein Zug trauriger Menschen setzte sich am frühen Morgen in Bewegung, Richtung Hochdobern (tschechisch: Dobrná). Bepackt und nach einer kurzen Rast in dem Dorf Hochdobern ging es weiter hinein in das Elbsandsteingebirge, entlang des Grenzflusses Kirnitzsch (tschechisch: Křinice). Mehr als die Hälfte der Einwohner von Bensen wurde gezwungen, den Fußmarsch zur sächsischen Grenze anzutreten, über die Dörfer Hochdobern, Habendorf und Güntersdorf.


„An die Wanderung aus dem Kirnitzschtal hoch nach Hinterhermsdorf kann ich mich kaum noch erinnern. Nur der Dorfbrunnen ist mir noch im Gedächtnis geblieben. Hier durften wir endlich wieder unseren Durst stillen und uns abkühlen. Unsere Hoffnung, in der alten Dorfschule übernachten zu können, erfüllte sich nicht, denn das kleine Dorf war überbelegt mit Geretteten aus den Luftangriffen auf Dresden.“

In Ottendorf, einem Stadtteil der sächsischen Kreisstadt Sebnitz, konnte die Familie zunächst bleiben. In einem Saal wurden den Vertriebenen kleine Parzellen zugewiesen, auf dem Saalboden hatte man mit Kreidestrichen Linien gezogen. Mit Ährenlesen und Beerenpflücken versuchten sie, ihren Hunger zu stillen. Der Vater, von Beruf Autoschlosser, konnte den Bauern in den umliegenden Dörfern defekte Maschinen reparieren und erhielt dafür öfters Lebensmittel. Nahrungsmittel waren aber für alle sehr knapp. Die hohe Zahl an Flüchtlingen und Vertriebenen in der Stadt Sebnitz ließ die Einwohnerzahl auf einem Schlag von ca. 8.000 Einwohner auf 14.500 anschwellen.
„Meine Schwester Christel schloss sich einer Nachbarin an, mit der sie heimlich nach dem Sudetenland wanderte, um von dort Nahrungsmittel nach Ottendorf zu holen. Mit einem leeren Rucksack wanderte sie nach Ober-Ebersdorf (tschechisch: Horní Habartice) zur Oma und kehrte schwer bepackt zurück. Als sie sich zum dritten Mal auf den Weg machte, ging ich mit, denn ich sollte bei Oma bleiben, um dort alles Weitere abzuwarten.“
Die Familie schickte also die jüngste Tochter, Jetti, zurück, denn die Eltern hofften immer noch auf eine Rückkehr. Der schwierige Weg durch das Elbsandsteingebirge gelang und so tauchte Jetti wieder bei ihrer Oma auf. Die Eltern aber wanderten mit ihren drei anderen Kindern weiter in Richtung Mitteldeutschland. Nach einer wochenlangen Reise fanden sie schließlich eine kleine Wohnung in dem Dorf Fraßdorf bei Köthen (Sachsen-Anhalt).
Ober-Ebersdorf, wo sich Jetti nun aufhielt, war zu dieser Zeit ein Bauerndorf. Etwa ein Drittel der Einwohner lebte vor Ausbruch des Krieges von der Landwirtschaft, vor allem die Schweinezucht und der Obstanbau waren verbreitet. Heute zählt das Dorf ca. 400 Einwohner.

Jetti, noch bei ihrer Oma in der Tschechoslowakischen Republik, erlebte dann jedoch ihre zweite Ausweisung. Auch in Ober-Ebersdorf hieß es aufzubrechen:
„1946, acht Monate nach unserer ersten Ausweisung erging auch an die Einwohner von Ober-Ebersdorf der Befehl zu packen. Wir wurden auf Lkws nach Tetschen-Bodenbach in ein Sammellager gebracht. In schmutzigen, mit allerlei Ungeziefer verseuchten Zelten, eng zusammengepfercht, mussten wir hier warten. Niemand sagte uns, wann oder wohin wir ‚ausgesiedelt‘ werden sollten.“
„Über Nacht wurden Güterwaggons in unser Lager geschoben und alle, deren Namen aufgerufen wurden, mussten mit ihren Habseligkeiten in den geschlossenen Güterwagen Platz nehmen. Die Böden waren mit altem Stroh bedeckt und Blecheimer standen in den vier Ecken. Wieder begann das Warten. Es war draußen schon dunkel, als wir losfuhren. Irgendwann hielten wir nachts und weitere Waggons wurden angehängt. Wieder fuhren wir weiter und nochmals wurde angehalten. Wir hatten jegliches Zeitgefühl verloren.“
Doch dann: deutsche Stimmen. Die Schiebetüren öffneten sich und Schwestern des Roten Kreuzes begrüßten die Ankömmlinge in Schweinfurt. Die Fahrt war allerdings hier noch nicht zu Ende; es ging weiter durch Deutschland. An Würzburg, Hanau und Frankfurt vorbei hielt der Transport erst am Nachmittag in Villmar an der Lahn.
„Nicht weit vom Bahnhof war für uns in einem Marmorsteinbruch ein Lager aufgebaut. Endlich konnten wir Frischluft genießen und uns die Beine vertreten. Bevor wir in die sauberen Baracken einziehen konnten, wurden wir von allerlei Ungeziefer befreit. Wir hatten den Monat Mai und überall grünte die Natur. Mit Eva und Annemarie ging ich abends in die Maiandacht im Dorf.“

„Wie sollte es weitergehen? Wir waren ohne Heimat, waren ohne Geld und ohne Lebensmittelkarten, waren ohne Mut und ohne Hoffnung: Wir waren jetzt heimatlos.“
Tage später, am 1. Juni 1946 fuhren Lkws vor und mehrere Familien aus Ober-Ebersdorf wurden gebeten, darin Platz zu nehmen. Nun wurden sie an die Endstation ihrer langen und unfreiwilligen Reise gebracht: nach Eisenbach.
„Unser Lkw hielt vor einem großen Saal, freiwillige Helfer erwarteten uns schon. Im Saal angekommen, begrüßte uns der Bürgermeister und hieß uns in der ‚neuen Heimat‘ willkommen. Je nach Größe der Familien wurden uns die Häuser genannt, wohin uns die Helfer bringen sollten. Da ich mit meiner Großmutter und meinem Onkel Franz in ein sehr kleines Zimmer kommen sollte, bot ein Helfer freiwillig an, ‚die Kleine‘ – mich – bei sich zu Hause unterzubringen. Meine Oma stimmte zu.“
Die fast zwölfjährige Jetti wohnte fortan bei der Familie Hartmann, die ein Lebensmittelgeschäft („Schorche“) betrieb. Sie hatten zwei Söhne – Heinz und Edmund.
„Die ersten Tage in Eisenbach waren sehr schwer für mich, denn alles war mir fremd. Doch schon am Tage nach unserer Ankunft kam eine Cousine der Buben, Marianne Berninger, und bot an, mich in ihre Volksschulklasse mitzunehmen. Meine Klassenkameradinnen gaben sich sehr viel Mühe, mich in ihren Kreis aufzunehmen. Das war anfangs gar nicht so einfach, denn ich verstand noch kein Hessisch.“
Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Die junge Jetti war mit ihrer Großmutter und einem Stiefonkel nach Eisenbach gelangt; ihre Eltern und ihre Geschwister hielten sich jedoch knapp 400 Kilometer entfernt, in Sachsen-Anhalt, auf. Erst nach einiger Zeit wussten sie dies überhaupt voneinander. Kommunikationsmöglichkeiten wie heute gab es schließlich nicht. Sich zu besuchen, war schon gar nicht möglich. Dass Jetti zu ihrer Familie stoßen würde: gleichermaßen unmöglich.
In einer Zuckerfabrik erhielt Jettis Vater später neue Arbeit. Sachsen-Anhalt lag zu dieser Zeit in der russischen Besatzungszone. Ihre Mutter besuchte mit Christel ihre jüngste Tochter Jetti in Eisenbach.
„Damals ging noch kein Zug über die Besatzungsgrenze und so riskierten die beiden, heimlich über die grüne Grenze zu gelangen. Ortskundige kannten die Schleichwege und brachten die zwei, zusammen mit einigen anderen Grenzgängern, in die amerikanische Besatzungszone. Die Freude war so groß, als wir uns wieder in die Arme schließen konnten. Es dauerte noch viele Monate, bis die Bahn wieder fuhr – Oma unternahm mit mir einen Gegenbesuch.“
Das Wiedersehen nach einer solch langen Zeit war sicherlich unbeschreiblich. Doch alle wussten: Jetti musste wieder nach Eisenbach zurück. Eine endgültige Trennung der Familie Schieche folgte dann durch die DDR-Grenzschließung im Jahr 1961. Nun war es nur noch für Jetti, die in Westdeutschland lebte, möglich, ihre Familie hin und wieder zu besuchen.
In der Zwischenzeit lebte sich Jetti in Eisenbach gut ein, verstand sich mit ihren Klassenkameradinnen, Freundschaften entstanden und aus der Sympathie für ihren „Gastbruder“ Heinz wurde im Laufe der Zeit Zuneigung.
„Dass ich heute Eisenbach als meine zweite Heimat ansehe, dafür sorgte einer der beiden Buben aus meiner Gastfamilie, denn wir sind schon sehr, sehr lange ein Ehepaar.“
Ende der 1990er-Jahre fuhren die Kinder und Enkel von Jetti und Heinz Hartmann gemeinsam über die deutsch-tschechische Grenze, um sich Jettis früheres Heimatdorf anzusehen.

Jettis vier Geschwister wurden mit ihren Ehepartnern und Kindern sesshaft in Sachsen-Anhalt: Horst und Helmut lebten in Dessau, der jüngste, nach der Aussiedlung in Ostdeutschland geborene Bruder Wolfgang in Köthen und Halle, Christel mit ihrem Mann Helmut in Gera.
Jetti Hartmann konnte leider selbst für den Artikel nicht mehr interviewt werden. Ihr Mann Heinz Hartmann hatte aber zeitlebens ihre Erlebnisse aufgeschrieben. Diese sind als Zitat gesetzt.
Quellen:
Heinz Hartmann: Aufzeichnungen über Jetti Hartmann.
Sudetengebiete.de: Bensen. https://sudetengebiete.de/bensen/?srsltid=AfmBOopWKIEuDHsSHDeAxU4Ec3Ev1hgfLZrBWCiP8xe2ZSgChu86eoov (letzter Zugriff: 14.03.2025)
Heimatfreunde Tetschen-Bodenbach: Bensen. https://heimatfreunde-tetschen.de/Orte/Bensen/ (letzter Zugriff: 27.03.2025)
Heimatfreunde Tetschen-Bodenbach: Ober-Ebersdorf. https://heimatfreunde-tetschen.de/Orte/Ober-Ebersdorf/ (letzter Zugriff: 27.03.2025)