Geschichte von Heinz Hartmann (in kursiver Schrift)
Text: Julia Hartmann
Recherche: Christian Heinz
Ein unbekannter Verfasser schrieb im Nassauer Boten: „Eisenbach, den 9. Januar 1883. Gestern beging in unserer Gemeinde ein Ehepaar sein 50-jähriges Ehejubiläum, an dem unsere ganze Gemeinde innigsten Anteil nahm. Wohl noch nie wurde in unserer Mitte ein Fest mit solchen Feierlichkeiten eingeleitet und zu Ende geführt als dieser Festtag. Galt es doch, sich mit dem Jubelpaar zu freuen, dem unsere ganze Generation zu großem Dank und innigster Liebe verpflichtet ist. Zu einem Mann, zu dessen Füßen während seiner nahezu 52-jährigen, segensreichen Lehrerwirksamkeit daher fast alle unsere Ortsbewohner lernend gesessen.“
Versonnen ließ der alte „Schumersder“ (Schulmeister), wie er von allen genannt wurde, seine Zeitung sinken. Der „Nassauer Bote“ berichtete aber noch weiter. Davon, wie die weiteren Feierlichkeiten noch verliefen, und sein Blick wanderte umher und seine Augen trafen sich mit den blauen Augen seiner lieben Goldbraut. Derweil machten sich auch seine Gedanken auf den Weg in seine Jugend, in seine Junglehrerzeit, wie so oft in den letzten Wochen:
An einem Frühlingstag des Jahres 1823 war er zeitig in seinem Geburtsort Fischbach bei Eppstein am Taunus aufgebrochen. Die Sonne meinte es gut mit unserem Wanderer und unter der Last seiner Reiseausrüstung floss der Schweiß reichlich in seinen hellblonden Bart. Mit all seinen Sinnen nahm er die Schönheit der Landschaft, die er durchwanderte, in sich auf. Er genoss die grünen, bewaldeten Taunushöhen, die saftigen Wiesen und Täler, die sich jetzt sanft nach Norden hin absenkten. Schon näherte er sich dem „Goldenen Grund“, erreichte die Kreuzkapelle und noch einige Höhen später trat er durch den letzten Wald und sah Eisenbach vor sich liegen. An einen Berghang angeschmiegt lag ein altes Kirchlein und eine stattliche Anzahl von weißgetünchten Häusern scharte sich um den spitzen Kirchturm, wie eine Herde um ihren Hirten. Eisenbach war nach Idstein und Camberg der drittgrößte Ort im Amte Idstein und bedufte unbedingt einer weiteren Lehrkraft. An einem kleinen Bächlein, dem Eisenbach, machte er sich schnell noch etwas frisch und beseitigte die Spuren des fast achtstündigen Fußmarsches. Sein erster Gang führte ihn, den 18-Jährigen, nun zu seinem Vorgesetzten, den Pfarrer Philipp Bernhard. Die letzten hundert Meter fielen ihm sichtlich schwer, hing doch viel davon ab, einen guten Eindruck auf den Herrn Pfarrer zu hinterlassen. Hoffentlich hatte der Geistliche heute einen guten Tag und ließ ihn, den Anfänger im Schuldienst, nicht zu lange schmachten.
Neben der alten, schon etwas baufälligen Kirche stand ein alter Bauer auf einem Misthaufen und war dabei, eine Fuhre mit Mist zu beladen. Eine ältere Frau mühte sich damit ab, zwei Kühe vor den Wagen zu spannen, aber die Kühe zeigten sich sehr störrisch. Heinrich sprang hinzu und mit geübtem Griff zwang er die beiden Rindviecher in ihr Geschirr. Dann drehte er sich zu dem Bauern um, damit der ihm den Weg zum Pfarrer zeige. „Den Herrn Pfarrer suche ich, könnt ihr mir sagen, wo ich den antreffen kann?“, fragte er den alten Herrn. Der schmunzelte und nahm sein Pfeifchen aus dem Mund: „Der steht vor dir auf dem Mist, mein Sohn, was willst du denn von mir?“, fragte er, wobei er freundlich lächelte. Völlig verstört und unbeholfen in seiner Verlegenheit nannte Heinrich seinen Namen und sein Anliegen, wobei er sich vor dem vermeintlichen Landwirt verbeugte. „Musst dich nicht vor mir oder dem Rindvieh verbeugen, verbeuge dich nur vor unserem Herrgott nebenan in der Kirche. Wer sich aber so gut mit dem Rindvieh auskennt, wie du, der wird auch mit dem Eisenbacher Nachwuchs fertig.“
Auf einer Mauer nebenan saß eine Schar Kinder und sah belustigt dem Vorgang zu. Besonders laut lachte ein blondes, etwa 9-jähriges Mädchen. „Pass auf, Anna, dass der neue Lehrer dir dein Lachen nicht austreibt“, dröhnte der tiefe Bass des Priesters. „Denn ab Mittwoch seid ihr in seiner Klasse.“ Mit hochrotem Kopf verschwand die Angesprochene im Nachbarhaus. Mit ihr verschwanden auch die anderen Kinder, mussten sie diese Nachricht doch schnell weitererzählen. Nun nahm sich der Pfarrer Zeit, um sich seinem neuen Schutzbefohlenen zu widmen. Während sich das Kuhgespann mit der Mistfuhre knarrend auf der holprigen Dorfstraße entfernte, lud er Heinrich in seine gute Stube und – nach dem auch noch der alte Schullehrer dazu gekommen war – konnten sich die drei eingehend über Schulfragen beraten. Im Laufe der Unterhaltung und durch geschicktes Fragen konnte sich der Pfarrer bald ein genaues Bild von dem neuen Lehramtsgehilfen machen. Er entdeckte bald einen hellwachen Geist mit Interesse an allem Alten und Neuen und obendrein waren sie sich alle sehr sympathisch. Einer Anstellung des jungen Mannes aus Fischbach stand von Seiten des Pfarrers nichts mehr im Weg. Mit einem Schlag auf die Schultern entließ er den Junglehrer und der ging zusammen mit seinem älteren Kollegen hin zu der für ihn ausgesuchten Wohnung.
Der alte Schulmeister fuhr aus seinem Sinnen hoch und sah in die besorgten Augen seiner Frau: „Wo warst du denn wieder mit deinen Gedanken, Heinrich?“, fragte sie ihren Mann. Er lachte und sagte: „Jetzt hast du mich wieder genau so angesehen wie damals, als ich die erste Schulstunde in deiner Klasse gehalten habe.“ Lächelnd stieß sie ihn an: „Damals habe ich ja auch noch Angst vor dir gehabt, du schlimmer Mann. Wie sollte ich auch wissen, dass du mir nicht nachtragen würdest, dass ich dich am Tage deiner Ankunft bei deiner Verbeugung vor dem Misthaufen ausgelacht habe.“ Wieder, wie so oft schon, tauchte die kleine Szene von damals vor ihm auf: Fast 50 Kinder in einem kleinen, angemieteten Raum warteten auf ihren neuen Lehrer und der wartete auf den Herrn Pfarrer, der ihn in die Klasse einführen sollte. Vor der Klasse stehend, verstummte schlagartig der Lärm, den so viele Kinder nun einmal verursachen. In ärmlichen, aber sauberen Kleidern saßen die Kinder vor ihrem neuen Lehrer und beide Seiten, Lehrer wie Schüler, hatten Angst voreinander. Nach ein paar lustigen Worten des Pfarrers löste sich die Spannung und Heinrich begann mit dem Unterricht. Seine erste Frage, die er an die Kleinen richtete, lautete: „Was macht Kindern am meisten Spaß?“ Der Pfarrer blinzelte verwundert und die Kinder staunten. Der neue Lehrer will wissen, was uns am meisten Spaß macht? Ja darf man denn in der Schule sagen, was einem Spaß macht? Ein leises Summen hob in der Klasse an. Scheu blickten die Kinder auf ihren Lehrer und fragten sich, ob diese Frage wirklich auch so gemeint war. Noch wagte keiner zu antworten. Heinrich blickte sich in der Klasse um und sein Blick fiel auf den kleinen Lachkobold vom Ankunftstag. Lächelnd fragte er: „Anna, du lachst doch gerne, sag mir doch bitte einmal, was dir Spaß macht?“ Etwas verlegen stand Anna auf, räusperte sich und dann antwortete sie ohne zu zögern: „Am meisten Spaß macht es mir, wenn wir abends alle zusammen am Tisch sitzen und Papa und Mama uns erzählen, wie es vor zehn Jahren Frieden geworden ist in unserem Land.“ Der alte Geistliche schluckte schwer und blickte auf seinen Junglehrer. Jetzt war der Bann gebrochen und die Antworten schwirrten von allen Seiten: „Wenn’s Kirmes ist! Wenn Weihnachten kommt! Wenn wir Ostern haben! Wenn wir Ostereier suchen dürfen! Und wenn gedroschen wird“, tönte ein Nachzügler. Plötzlich wussten alle, dass es Spaß macht, ein Kind zu sein.
Mit feuchten Augen zog der Pfarrer die Türe hinter sich ins Schloss. Er war tief gerührt. Am kommenden Sonntag würde er seinen Eisenbachern sagen, wie viel Freude es machte zu leben, und dass dem Herrgott ein froher Mensch lieber ist als ein Sauertopf oder eine missmutige alte Bet-Tante. Natürlich würde er seinen Schäflein das Wort „Bet-Tante“ nicht zumuten.
Indessen war der Unterricht in der Klasse munter weitergegangen. Heinrich fragte Schülerinnen und Schüler nach ihren Namen und den Namen der Eltern. Besorgt vernahm er, wie viele Väter in den „Niederlanden“ (so hieß allgemein die Gegend um Köln) ihr Brot verdienen mussten und nur ein paar Wochen im Jahr bei ihren Familien sein konnten. Seit langer Zeit waren die Bergwerke um Eisenbach alle unrentabel und fast alle geschlossen worden. Die Äcker, die den Lebensunterhalt mitversorgen mussten, waren durch unselige Erbteilungen so klein und zerrissen, dass sie kaum noch ihre Besitzer ernähren konnten. So blieb daher den meisten Männern nur die Arbeit in der „Fremde“ als Ausweg. Dazu hatten in den vergangenen Kriegszeiten fremde Kriegsheere unentwegt ihr Tribut gefordert und unzählige Male mussten fremde Truppen verköstigt werden. Dabei kamen die Schikanen sowohl von befreundeten als auch von feindlichen Truppen. In der Gemeinde, in der er seinen Dienst begonnen hatte, herrschten demnach noch immer Armut und Sorgen.
Der junge Lehrer hatte sich schnell eingelebt. Aus seiner Heimatgemeinde Fischbach, wo die Einwohner ihre Ernte mit Obstbäumen aufbesserten, ließ er sich Baumschösslinge mit kältefesten Apfel- und Birnensorten schicken und in Pfarrer Bernhard hatte er einen treuen Verbündeten in seinem Bemühen, neue Obstsorten in Eisenbach einzuführen. Seinem Vater konnte er sogar einen Bienenstock abschwatzen und der Erfolg gab ihnen im Laufe der Jahre recht. Auch Beerenfrüchte wurden besorgt und säumten mehr und mehr die Gärten. Hinzu kam noch, dass der Besitzer des Hofes zu Hausen, der General a.D. von Kruse, mit kältefestem Getreide experimentierte und damit den Getreideanbau im sogenannten „Goldenen Grund“ nachhaltig verbesserte.
Das alles ging dem alten Schulmann durch den Sinn, als er hier an der Seite seiner lieben Frau die Glückwünsche durchblätterte. Augenblinzelnd flüsterte Anna-Maria ihrem Mann zu: „Weißt du noch, wie’s mit uns beiden angefangen hat?“ Nun versanken sie, das alte Paar, gemeinsam zurück in der Vergangenheit: Welche Angst hatte sie, Anna, damals vor dem neuen Lehrer gehabt, den sie doch im Beisein des Pfarrers ausgelacht hatte. Mutter und Großmutter hatten sie öfter getadelt, wenn sie, die Klassenbeste, wieder einmal vorgesagt hatte und dafür getadelt worden war. Jetzt stellte der neue Lehrer ausgerechnet an sie die erste Frage. Die Antwort, die sie daraufhin gab, ging ihr ohne langes Nachdenken über die Lippen. Es waren ja nur wenige Jahre vergangen, seit der letzte Krieg, der „Befreiungskrieg“, über die Heimat hinweggefegt war und darüber freute sich Alt und Jung. Erst vor zwei Jahren war Napoleon in seiner Verbannung gestorben und mit feinem Gespür fühlte sie das Aufatmen der Leute. Damals, so erinnerte sie sich, stieg Lehrer Berninger in ihrer Achtung. Wie oft schon hatte sein kleinlicher Vorgänger ihr den Schulunterricht verleidet. Führ ihren neuen Lehrer wollte sie mit Feuereifer lernen und bald wehte auch in der gesamten Klasse ein neuer Geist. Gleichzeitig bemerkten auch die meisten Eltern den guten Einfluss, den der Neuankömmling auf ihre Sprösslinge ausübte. Außerdem rechneten sie es ihm hoch an, dass er als Bauernsohn so viel von ihrem Beruf verstand und praktische Hilfe leistete.
Anna entsann sich an jenen schrecklichen Unglückstag, als das Pferd ihres Onkels durchgebrannt war. Ihr Onkel hatte nach dem Krieg ein ausgedientes Kavalleriepferd gekauft. Durch sein Alter schon etwas fromm geworden, zog es in der Heuernte 1826 Wagen für Wagen der Scheune zu. Bei der letzten Fuhre geschah es dann: Eine Gruppe Musikanten war aufgetaucht und stimmte die Instrumente. Langsam näherte sich unterdessen das Heufuhrwerk. Schon beim ersten Trompetenstoß legte das müde Pferd seine Ohren an und als dann auch noch die Trommeln einsetzten, schüttelte es Müdigkeit und Alter ab, stieg in der Deichsel hoch und raste mit seiner Fuhre los. Wäre die Straße leer gewesen, hätte sich das Pferd nach einigen hundert Metern ausgetobt und wäre wieder in Trab gefallen. Leider kam dem rasenden Pferd eine Schulklasse entgegen. Inzwischen war Annas Onkel vom Wagen geschleudert worden. Anna, die an der Spitze der Klasse ging, schrie entsetzt dem Lehrer zu. Heinrich Berninger erkannte die Gefahr. Er eilte dem wilden Pferd entgegen und fiel ihm in die Zügel. Dabei wurde er vom Vorderhuf des Pferdes getroffen, hielt aber eisern die Zügel umklammert. Etwa 20 Meter weit wurde er mitgeschleift, aber dann blieb das Pferd mit zitternden Flanken stehen. Herbeieilende Helfer mussten gewaltsam die Lederriemen aus den Händen des jungen Mannes lösen, der inzwischen bewusstlos zusammengesunken war. Die erschrockenen Kinder sahen ihren Lehrer blutend im Staube liegen. Man brachte Heinrich zum Pfarrer, der sogleich damit begann, seinen Junglehrer behutsam zu versorgen. Mit einem Kräuteraufguss reinigte er die Fleischwunden und schickte einen Reiter zu einem Arzt in Camberg. Die erste Frage, die Heinrich nach seiner Bewusstlosigkeit an den Herrn Pfarrer richtete, galt der Unversehrtheit seiner ihm anvertrauten Kinder. Denen war Gott sei Dank nichts passiert. Nur Annas Onkel erlitt bei seinem Fall von dem Wagen einen Beinbruch und wurde auch später von dem herbeigeeilten Camberger Arzt mitversorgt. Heinrich hatte drei Rippen gebrochen und erlitt zudem eine Gehirnerschütterung. Anna erinnerte sich noch genau, wie lange ihr damals die Zeit vorgekommen war, bis der Junglehrer wieder vor die Klasse treten konnte. Bis dahin hatte sie – mit zwei Mitschülerinnen zusammen – ihre Mitschüler so gut es eben ging, beschäftigt. Als Lehrer Berninger ihnen nach seiner Genesung allen Dreien Lob und Anerkennung ausgesprochen hatte, waren die drei mächtig stolz.
Es war der Wunsch von Annas Vater, dass seine Tochter mit 13 die Schule verlassen und bei einer Verwandten Kochen und Backen lernen sollte. Anna hätte viel lieber noch weiter gelernt, aber Mädchen gehörten, nach Meinung der Zeit, an den Herd. Die Zeit bei ihrer Tante ging Anna viel zu langsam vorbei und sie vergoss viele heimliche Tränen in der Fremde. Doch auch diese Zeit ging vorüber und als es wieder zurück nach Eisenbach ging, war aus dem schlaksigen, jungen Mädchen eine hübsche, junge Dame geworden. Es gab eine Menge junger Burschen, die sie umwarben, doch sie holten sich alle einen Korb. Sie traf i h n wieder, als er gerade die Kirchentüre abschließen wollte. „Ich will nur noch diesen Blumenstrauß auf den Altar stellen“, gab Anna vor und versicherte, dass es ein richtiger Zufall gewesen sei, sich hier zu treffen. Sie war nun 16 Jahre alt und sehr hübsch und er stand mit seinen 25 Jahren genauso verlegen vor ihr, wie damals bei seinem Amtsantritt. Wie einst vor dem Herrn Pfarrer, so verbeugte er sich heute ungeschickt vor dem Mädchen. Sie lachte leise auf und fragte, leicht errötend: „Wollen wir uns nicht beide vor dem Altar verbeugen?“ Sie schlug sich sanft auf den Mund. Hatte sie ihren Lehrer doch fast mit „Du“ angeredet? Jetzt mutiger geworden, schaltete der sofort: „Anna, was meinst du, sollen wir hier am Altar üben, wie wir uns beide bald gegenseitig das ‚Ja-Wort‘ geben wollen? Noch genauer. Anna-Maria Böcher, ich möchte dich jetzt fragen, ob du meine Frau werden willst?“ Und mit jedem Wort, das er sprach, küsste er sie sanft auf den Mund. Da war nichts, was Anna missverstehen konnte, und sie begriff, und doch ließ sie sich noch und noch erklären, ob sie nun verlobt wären? Gemeinsam gingen sie etwas später hinüber ins Pfarrhaus, um ihrem väterlichen Freund diese gute Neuigkeit mitzuteilen.
Der Herr Pfarrer war aber keineswegs so überrascht, wie sie beide angenommen hatten. „Ja, habt ihr denn geglaubt, ich hätte nicht bemerkt, wie es um euch beide stand? Hätte nicht bemerkt, wie Heinrich stiller und stiller wurde und nur auftaute, wenn die Rede auf Anna kam? Mich jedenfalls freut eure Verlobung von ganzem Herzen. Mit Hannas Eltern werde ich reden, denn für dich, Heinrich, mache ich gerne den Brautwerber“, schloss er. Der Herr Pfarrer machte seine Sache gut, denn nach anfänglichem Murren war der Vater einverstanden und die Mutter kannte ja längst schon den heimlichen Wunsch ihrer Tochter.
Der alte Schulmeister streichelte sanft über die Schultern seiner lieben Frau und Anna schreckte aus ihren Träumen. Ihre Brautzeit war gerade vor ihr wie im Traum abgelaufen. Obwohl Heinrich ihr nie einen Anlass gegeben hatte, war sie damals sehr eifersüchtig gewesen. Als sie sich in dem alten Kirchlein am Berg in Eisenbach am 8. Januar 1833 die Ringe ansteckten, war Anna 19 Jahre alt. Ihr Bräutigam war 27 Jahre alt.
Heinrich Rupertus Berninger wurde am 27. März 1805 in Fischbach als Sohn der Eheleute Heinrich und seiner Ehefrau Anna-Maria, geb. Pfeifer, geboren.
Er begann zunächst als Lehrergehilfe 1823 seinen Dienst in Eisenbach, leitete schließlich bis 1874 die Schule. So feierte er das zu dieser Zeit sehr seltene 50-jährige Dienst- und Ortsjubiläum. Am 1. Juli 1873 erhielt er hierfür das Allgemeine Ehrenzeichen von der Königlichen Regierung, verliehen durch den Minister der „geistlichen Unterrichts- und Medizinangelegenheiten“. Schulinspektor Mayer beschreibt ihn als „brave[n], religiöse[n] und eifrige[n] Lehrer“.
Im 19. Jahrhundert war das Unterrichten etwas anderes: So saßen mehrere Schuljahrgänge gemeinsam im Klassenzimmer von Berninger und seinem Lehrgehilfen. Die jüngeren Jahrgänge wechselten sich dabei mit den älteren Jahrgängen ab, mal wurden sie vormittags, mal nachmittags unterrichtet. Im Jahr 1829 waren dies allein 84 Kinder in der „oberen Schule“ (entspricht dem 5.-8. Schuljahr) und 105 Kinder in der „unteren Schule“ (entspricht dem 1.-4. Schuljahr).
Während Berningers Lehrtätigkeit in Eisenbach wurde das alte Schulhaus aufgrund der beengten Räumlichkeiten untauglich, es musste ein neues Schulhaus her! Nach dem Grundstückskauf in Höhe von 169 Gulden wurde am 8. April 1828 hierfür der Grundstein gelegt. Nach den Herbstferien 1829 wurde das neue Schulgebäude feierlich eröffnet. Hierzu hielt Heinrich Rupertus Berninger fest:
„Es war wirklich etwas eignes zu sehen, wie die Schüler die Lautiermaschine, ein anderer mehrere Lesetafeln, ein dritter die Einheitstabelle brachte, um es an die neue längst gewünschte Lehrstätte zu befördern. Lehrer und Schüler glaubten nun wieder eine neue Ursache zu haben, mit regerem Fleiße und ausdauernder Kraft zu lehren und zu lernen.“
Der pensionierte Lehrer Berninger musste 1874 miterleben, wie auf einen Schlag 400 Eisenbacher obdachlos wurden. Denn am 4. Juli brannte der Häuserbereich zwischen Pfarrhaus und Schule völlig nieder; 36 Wohnungen waren betroffen, darunter auch die Lehrerdienstwohnung. Der Brand blieb lange unentdeckt, da die Menschen beim Heumachen beschäftigt waren.
Ab 1874 übernahm Johann Weidenfeller, gebürtig aus Hellenhahn, die Leitung der Schule.
Anna-Maria kam als Tochter der Eheleute Nikolaus Böcher und seiner Ehefrau Franziska, geb. Weil, im Juli 1813 in Eisenbach zur Welt.
Der Lehrer und seine Ehefrau hatten sieben Kinder:
Heinrich, geb. 21.08.1834, gest. 02.02.1895;
Peter, geb. 26.11.1839, gest. 06.12.1898;
Nikolaus, geb. 02.04.1841, gest. 14.01.1917, verheiratet mit Catharina Schnierer;
Franz, geb. 1843;
Katharina, geb. 08.09.1847, gest. 23.07.1907, verheiratet mit Mathias Arthen;
Adam, geb. 21.02.1851, gest. 02.10.1922, verheiratet mit Franziska Hartmann, dann mit Maria Anna Hartmann, Beruf: Schuhmacher;
Johann, geb. 1853.
Am 30. Juli 1885 starb Heinrich Rupertus Berninger. Nur fünf Monate später folgte Anna ihrem Mann nach.
Altes Berninger-Haus, ehemalige Wirtschaft Berninger (später Pauly)
Quellen:
Heimatbuch Eisenbach (1984): Aus der Eisenbacher Schulgeschichte, von Rudi Otto. S. 99-114.
Eisenbach – Einst und Jetzt: Schule anno 1800. https://eisenbach-einst-und-jetzt.de/schule-anno-1800.
Kirchenbuch: Trauungen 1833. https://data.matricula-online.eu/en/deutschland/limburg/eisenbach-st-petrus/Eisenb+K+6_2/?pg=61 (letzter Zugriff: 28.09.2024).
Verein für Computergenealogie:
https://gedbas.genealogy.net/person/show/1426055551
https://gedbas.genealogy.net/person/show/1426055552
https://gedbas.genealogy.net/person/show/1426055553
https://gedbas.genealogy.net/person/show/1426056009
https://gedbas.genealogy.net/person/show/1426055554 https://gedbas.genealogy.net/person/show/1426055555