Flucht aus der DDR nach Eisenbach

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Flucht ist aktuell auf Grund der Ereignisse in Afghanistan und insbesondere seit 2015 ein Thema in der öffentlichen und politischen Diskussion.

Manfred mit seinem Opa 1942 in Lotz

Kürzlich jährte sich der Bau der Berliner Mauer zum 60. Male. Fast vergessen und höchstens schwach gestreift wird und wurde, dass Menschen aus dem einen Teil von Deutschland in den anderen flüchten mussten und dies auch mit erheblichen Schwierigkeiten und Gefahren verbunden war. Viele verloren dabei ihr Leben.

Erzählt wird hier die Geschichte des jungen Mannes Manfred Nickel, der 1958 aus der DDR in die BRD flüchtete und in Eisenbach eine neue, eine endgültige und auch letzte Heimat fand. Man kennt ihn im Ort als sehr hilfsbereiten Menschen, der sich donnerstags beim Altennachmittag auch als Helfer einbringt und der bei Problemen im Sanitär- und Heizungsbereich zur Verfügung steht. Seine Zeit als Fußballschiedsrichter bei den Spielen der Alten Herren und beim Bürgerfußballturnier ist gesundheitlich bedingt vorbei. Das Angeln und die Politik sind ihm geblieben. 

Manfred wurde am 16.07.1940 in Litzmannstadt geboren. Eigentlich müsste der Geburtsort Lodz / Polen heißen. Weil die Deutschen Polen überfallen und eingenommen hatten, wurde der Name geändert. Die Eltern Waldemar und Erna Nickel wurden beide 1914 geboren. Die Großeltern väterlicherseits, Friedrich und Ernestine Nickel, hatten in der Nähe von Lodz ein Hofgut. Der Vater Waldemar hatte sein Theologiestudium abgeschlossen, fiel aber bald nach der Geburt seines einzigen Kindes im Frühjahr 1942 bei Moskau. Opa und Oma von Seiten der Mutter waren Johann und Wanda Schorsch.

Kriegsende

Im Januar 1945 begann das Flucht-Drama. Die Russen waren auf dem Vormarsch. Der kleine Manfred, seine Mutter Erna und deren Mutter Wanda mussten mit Habseligkeiten in 2 – 3 Koffern flüchten und den Rest zurücklassen. Johann und Ernas Bruder Alfred Schorsch gerieten in polnische Gefangenschaft. Ihre Erschießung stand unmittelbar bevor, als ein deutscher Luftangriff mit Stukas (Sturzkampfbombern) die polnischen Liquideure in die Flucht trieb. Die anschließende russische Gefangenschaft rettete den beiden Verwandten das Leben, 1948 wurden sie aus der russischen Gefangenschaft entlassen.

Das Trio Manfred/Erna/Wanda flüchtete im Februar 1945 bei minus 12 Grad in einem offenen Eisenbahnwaggon. Bei Dresden erlebten Sie die Bombardierung der Stadt hautnah mit. Der Zug fuhr bis ins Sudetenland nach Teplitz-Schönau, das in der von den Nazis eroberten Tschechoslowakei lag. Dort lebten die Drei bei Bekannten und dort wurde aus dem Trio leider ein Duo, denn Oma Wanda starb an den Folgen des kühlen Februar-Transportes. 

Ende 1945 stand schon wieder die nächste Flucht an, der Krieg war für Deutschland verloren. In Teplitz-Schönau übernahmen die Tschechoslowaken und die Russen das Kommando. Die wenigen Habseligkeiten passten wiederum in 2 – 3 Koffer, das Fluchtmittel war erneut der offene Eisenbahnwaggon. Die Flucht war am Bahnhof in Magdeburg zu Ende, dort wurden zu allem Überfluss auch noch ihre Koffer gestohlen.

Kindheit in Magdeburg

Glück hatten die Nickels aber auch. Die ihnen völlig unbekannte Familie Grafunder stellte ihnen in ihrer Wohnung in der Rebkowstraße 11 im Stadtteil Salbke ein Zimmer zur Verfügung und ließ sie auch nicht verhungern. Hauseigentümer war das kinderlose Ehepaar Streul. Er, ein Arzt, praktizierte und wohnte im Haus. Und sorgte sich sehr um die anderen Hausbewohner, insbesondere um die Kinder.

Die Verhältnisse stabilisierten sich. Manfred wurde mit knapp 6 Jahren in der Grundschule in Magdeburg-Salbke eingeschult. Die Mutter fand Arbeit als Putzfrau und Bürohilfe. Die Hausgemeinschaft kümmerte sich während ihrer Abwesenheit um den Nickel-Sprössling.

Manfred im Alter von 20 Jahren

Wie schaffte man es 1948, in Russland aus der Gefangenschaft entlassen zu werden und seine Tochter, Schwester und den Enkel und Neffen in Magdeburg-Salbke ausfindig zu machen? Opa und Onkel Alfred schafften es mit Hilfe des Deutschen Roten Kreuzes, blieben aber nur kurze Zeit in Salbke und machten sich dann alleine auf den Weg nach Hannover. Alfred zog nach Flatow bei Berlin, arbeitete dort auf einem Bauernhof, den er später übernahm. In den großen Schulferien war Manfred immer bei Onkel Alfred und half in der Landwirtschaft.

1950 wurden Erna und Manfred Nickel eine Wohnung zur Untermiete in Magdeburg-Fermersleben zugewiesen. Jetzt – Eltern und Schüler von heute aufgepasst – verblieb der 10-jährige Schüler jedoch in der Volksschule in Salbke, der einfache Schulweg betrug 3 – 4 Kilometer und musste 6-mal in der Woche hin und zurück „per pedes“ bewältigt werden.

Deutschland und Berlin wurden nach Kriegsende in 4 Zonen aufgeteilt. Magdeburg gehörte zur SBZ, der sowjetisch besetzten Zone. Die anderen Siegermächte waren USA, England und Frankreich. Am 23.05.1949 wurde die Bundesrepublik Deutschland (BRD) gegründet, die Russen legten am 07.10.1949 mit der DDR (Deutsche Demokratische Republik) nach.

Ausbildung im Kombinat

Manfred Nickel beendete 1953 die Schule und wurde dann im Rahmen eines Pilotprojekts im Walter-Ulbricht-Kombinat untergebracht. Neben Schule stand noch eine Lehre als Betriebsschlosser an. Er arbeitete auch in diesem Beruf, nachdem er die Ausbildung abgeschlossen hatte.

In der SBZ lief es wirtschaftlich nicht so gut, weshalb viele Bürger in den Westen abwanderten. Noch stand die Mauer nicht. Die DDR erschwerte seinen Bürgern aber das Reisen nach Westen. Umgekehrte Besuche von Westlern im Osten waren jederzeit möglich.

Die Nickels hatten in Magdeburg einen Bekannten namens Hugo Hartwig. Dessen Bruder Otto wohnte in Frankfurt – nicht an der Oder sondern am Main. Bei Hugo lernten sich die verwitwete Erna und Otto kennen. Otto fand wohl Gefallen an Erna, dazu kommen wir später noch einmal zurück.

Reisen in den Westen gestattete die DDR mit dem Interzonenpass, diesen zu erlangen war jedoch schwer. Manfred Nickel betätigte sich in der Gewerkschaft und in der FDJ (Freie Deutsche Jugend).

Er durfte, im Gegensatz zu seiner Mutter, 1956 zur Beerdigung des Opas Friedrich Nickel nach Düsseldorf fahren. Wahrscheinlich wurde die Mutter als erfolgreiches Druckmittel und Pfand für Manfreds Rückkehr eingesetzt.

Die wirtschaftlichen und anderen Verhältnisse in der DDR wurden schlechter, immer mehr Bürger und somit auch Facharbeiter kehrten ihr den Rücken. Auch Opa Johann, Mutter Erna und Sohn Manfred hatten von der DDR die Schnauze voll und trugen sich mit Fluchtgedanken. Freilich musste man diese für sich behalten, Verrat an dem Staat brachte den Denunzianten Vorteile und den Verratenen Gefängnis.

Mutter Erna und ihr Vater erhielten im März 1958 einen Interzonenpass für den Besuch bei Onkel Alfred in Hannover-Langenhagen. Natürlich wurde diese Reise wieder mit lediglich 2 – 3 Koffern angetreten. Alles darüber hinaus hätte ja die fehlende Rückkehrabsicht dokumentiert. Wahrscheinlich war jetzt der zurückgebliebene und noch minderjährige Manfred das Druckmittel und die Sicherheit für die Rückkehr. 

Manfred flüchtet

Zwei Wochen nach der Mutter und dem Opa machte sich der 17-jährige Manfred auf den Weg gen Westen. Wenige Habseligkeiten wurden in einer etwas größeren Aktentasche verstaut. Um Kontrolleuren Staatstreue zu vermitteln, trug er das Hemd der FDJ. Sein Freund Heinz Mendel fuhr ihn mit seinem Motorrad von Magdeburg nach Berlin. Manfred kaufte sich eine Fahrkarte nach Brandenburg. Die Berliner S-Bahn fuhr zu diesem Zeitpunkt vom Osten durch den Westen wieder in den Osten. Manfred Nickel stieg im Osten ein und wurde schon bald von Vopos (Volkspolizisten) kontrolliert. Die wenigen Urlaubsklamotten, das FDJ-Hemd und Manfreds Erläuterungen, er wolle Bekannte in Brandenburg besuchen, verursachten bei den Volkspolizisten kein Misstrauen. An der im Westen gelegenen Haltestelle Berlin-Frohnau verabschiedete sich Manfred Nickel von einer älteren Sitznachbarin – die dem Buben alles Gute wünschte – und von der DDR. Er begab sich in (West)-Berlin zu Bekannten. Bei einer weiteren Flucht mit Auto oder Zug hätte er durch das Staatsgebiet der DDR gemusst und wäre inhaftiert worden. Also flog er 2 Tage später von Berlin nach Hannover, wo er von seinen Verwandten erwartet und in die Arme geschlossen wurde.

Sein Freund und „Fluchthelfer“ Heinz Mendel berichtete Manfred viele Jahre später, von der Staatssicherheit sehr massiv angegangen worden zu sein. Er konnte aber vermitteln „nichts mit Manfreds Flucht zu tun zu haben“ und blieb sanktionslos.

Im Westen

Jetzt wird es aber entspannter. Es ist ein riesengroßer Unterschied zwischen einer Flucht aus einem totalitären Land und einem Wohnortwechsel in einem freien Land.

Von Hannover aus erfolgte die Verlegung ins Notaufnahmelager nach Uelzen, wo die Amerikaner massiv die Ursachen der Flucht und die Verhältnisse in der DDR hinterfragten. Auch das wurde überstanden.

In Eisenbach eine neue Heimat gefunden: Manfred Nickel im Jahr 2021.

Jetzt kam wieder Otto Hartwig ins Spiel. Richtig, das war der, der beim Besuch des Bruders in Magdeburg ein Auge auf Mutter Nickel geworfen hatte. Er besaß in Frankfurt-Hausen, Praunheimer Landstraße 15, ein Trümmergrundstück – das Haus war zerbombt. In Nebengebäuden, einer Bretterbude mit 3 Zimmern und einer Kochnische fanden Erna und Manfred Nickel Obdach. Johann Schorsch war in Hannover geblieben. 

Otto und Erna wurden ein Paar. Arbeit gab es in Hülle und Fülle, Manfred fand zunächst bei der Firma Esch & Sohn und ab 1965 bei der Firma Eisenbach eine endgültige Anstellung bis ins Jahr 2004. Das Trümmergrundstück wurde aufgeräumt, Steine wurden geputzt und mit diesen ein dreistöckiges Haus gebaut. Im Erdgeschoss zog eine Familie mit Tochter ein. Die Tochter gefiel Manfred und Manfred gefiel die Tochter. 1964 heirateten beide und bezogen ein Jahr später eine Wohnung in Schwalbach. Zwei Töchter kamen auf, die Welt.

Neue Heimat in Eisenbach

Aufgrund gepachteter Fischteiche kam Manfred häufiger ins schöne Eisenbach und lernte auch die „Rickhütt“ (Hubertushof) kennen und schätzen. Als 1985 dann eine Wohnung im Vorderhaus frei wurde, zog er mit Familie dort ein. Hier wohnte er bis 1997. Die beiden Töchter Elke und Barbara hatten inzwischen geheiratet und waren in eigene Wohnungen gezogen. Seine – inzwischen geschiedene – Frau verstarb 2011, ebenso seine Tochter Elke. Tochter Barbara zog zwischenzeitlich nach Berlin, ehe sie 2007 wieder zurückkehrte und seither mit ihrem Mann und ihrer Tochter im Ortsteil Münster lebt.

Seit 1997 wohnt Manfred mit Lebensgefährtin Andrea und deren Sohn in der Elisabethenstraße in Eisenbach. Und in Eisenbach will er auch, der liebe Gott möge ihm aber noch einige schöne Jahre gönnen, irgendwann begraben werden.   

Aufgeschrieben von Schorsch Horz

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