Von Christian Heinz
Vor einigen Jahren machte mich Frank Noll von Eisenbach – Einst und Jetzt, zu dessen Gruppe auch ich gehöre, auf einen Zeitungsausschnitt in einer österreichischen (!) Zeitung (Salzburger Volksblatt) vom 8. Januar 1914 über einen Vatermord in Eisenbach Taunus aufmerksam. Eine kurze Google-Suche nach „Mord Seck Eisenbach“ oder „Vatermord Eisenbach Seck“ brachte erwartungsgemäß keine befriedigenden Ergebnisse. So gab ich schließlich auf, glaubte nichts finden zu können und legte die Sache entmutigt zu den Akten.
Jetzt, nach Jahren, beim Nachdenken über andere interessante historische Ereignisse, kam mir die Sache mit Seck wieder in den Sinn. Wieder habe ich gegoogelt und natürlich wieder nichts Befriedigendes gefunden. Eine Befragung des dorfbekannten Musikers Josef Ost ergab, dass der Mord an dem Landwirt Seck im Dorf unter Gleichaltrigen bekannt war. Aber mehr, als dass der Junior Seck den Senior Seck getötet hatte, war auch Ost und den Gleichaltrigen nicht bekannt. Schließlich liegt die Tat mehr als 100 Jahre zurück. Zeitzeugen von 1914, die man konkret befragen könnte, leben natürlich nicht mehr.
Der nächste logische Schritt war, das zuständige Staatsarchiv in Wiesbaden per E-Mail zu kontaktieren. In der Annahme, dass damals das Landgericht Limburg mit dem Fall befasst war, wies ich darauf hin, dass es, wenn es Akten zu dem Fall gäbe, Einträge im Archivregister des zuständigen Landgerichts Limburg geben müsse. Wie das Hessische Hauptstaatsarchiv organisiert ist, wusste ich nicht. Einige Tage später erhielt ich per E-Mail die Antwort, dass leider keine Akten zu dem genannten Fall im Staatsarchiv vorhanden seien.
Dann habe ich es wieder für ein paar Tage auf Eis gelegt. Aber es hat mich natürlich nicht losgelassen. Ich dachte mir, da der Fall sogar in österreichischen Zeitungen kurz erwähnt wurde, muss er damals erst recht in heimischen Zeitungen gestanden haben, mit etwas Glück etwas ausführlicher und über mehrere Tage hinweg, als nur eine Meldung wie in Österreich. Da es in der NNP Lokales gibt, ist es naheliegend, dass es auch vor 100 Jahren schon Zeitungen gab, die über Lokales berichteten. Also googelte ich nach dem Vorgänger der NNP und fand heraus, dass es der Nassauer Bote war, der von 1870 bis 1963 täglich erschien. Auf der Wiki-Seite ist die Titelseite der Ausgabe vom 20.12.1883 ohne Bezug zu Eisenbach zu sehen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Nassauer_Bote
Also schrieb ich erneut an das Hessische Staatsarchiv mit dem österreichischen Zeitungsartikel im Anhang und der Frage, ob es in Wiesbaden Ausgaben des Nassauer Boten gäbe. Leider habe ich bis heute keine Antwort erhalten.
Dann habe ich einfach mal „Nassauer Bote“ gegoogelt und bin tatsächlich auf diese Seite gestoßen.
https://hlbrm.digitale-sammlungen.hebis.de/zeitungen-hlbrm/periodical/titleinfo/977421
Eigentlich nicht schwer. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Aber weiter im Takt. Zum Glück sind dort viele Ausgaben des Nassauer Boten von 1914 bis 1920 online abrufbar. Also 2. Januar 1914 angeklickt, dann oben rechts Eisenbach in das Suchfeld eingegeben und Bingo! Ich bekam die Artikel angezeigt, die sich auf Eisenbach bezogen und die sich alle um den Vatermord Seck im Januar 1914 drehen. Vier davon sind nachfolgend dokumentiert und zur besseren Lesbarkeit in die neue Rechtschreibung transkribiert.
1.
Die Tat
Eisenbach, 8. Jan. [1914] Gestern Abend wurde der Sohn des Peter Seck, ein junger Mann von etwa 23 Jahren, verhaftet und geschlossen ins Gerichtsgefängnis in Camberg übergeführt. Nach dem Ergebnis der vom Amtsgericht Camberg an Ort und Stelle geführten Untersuchung steht er im dringenden Verdachte, den Vater erschossen zu haben. Es fanden sich 2 Schusswunden im Hinterkopf. Vater und Sohn hatten seit Jahren öfters heftige Auseinandersetzungen. Als nun am Montagabend nach 10 Uhr Seck-Vater von einem Gange zur Apotheke in Niederselters in angetrunkenem Zustande heimkehrte, kam es zwischen beiden zu einem heftigen Auftritt. Nachbarn bezeugten, um diese Zeit mehrere Schüsse aus dem Seckschen Wohnhause gehört zu haben. Um den Schein zu erwecken, als sei dem betrunkenen Vater ein Unfall auf dem Heimweg zugestoßen, hat Seck den Leichnam vor die Haustür gelegt. Im Keller versteckt wurde bei der gerichtlichen Untersuchung ein mit Blut getränkter Sack aufgefunden, mit welchem augenscheinlich die Stelle, wo der getötete Seck im Wohnhause zusammengebrochen ist, vom Blute gereinigt worden ist. Auch fanden sich Blutspuren an einem Beinkleide des jungen Seck. Bei dessen Überführung ins Gefängnis durch unseren Ort hatte die Gendarmerie Mühe, ihn vor der Volksjustiz zu schützen. Allenthalben schrie ihm die Menge das Wort „Vatermörder“ entgegen.
„Limburger Anzeiger“ vom 8.1.1914*
*in neue deutsche Rechtschreibung transkribiert
2.
Die Ermittlungen
Kein Vatermord im „Goldenen Grund“
Am 6. Januar d. Jahres [1914] kam aus Eisenbach die Kunde, dass der 23 Jahre alte Peter Seck Junior abends gegen 10 Uhr seinen Vater, den Landwirt Peter Seck 4. durch zwei Schüsse in den Hinterkopf getötet habe. Peter Seck Junior wurde verhaftet und in das Gefängnis nach Wiesbaden in Haft abgeführt, wo er sich heute noch befindet. Bei seiner ersten Vernehmung bestritt der junge Seck, dass er den Vater mit Absicht getötet habe, und gab an, der Vater fei, nachdem er (Seck jun.), mit dem Vater in der Stube in Streit geraten und auf den Vater geschossen, nach dem Schuss aus der Stube gegangen, um, wie der Vater gesagt, ein Messer zur Abwehr zu holen. Vor der Tür des Wohnzimmers, von der eine Treppe nach dem Hausflur hinunterführt, habe Seck den Vater noch einmal angehalten, um ihn zu verhindern, ein Messer oder eine sonstige Waffe zu holen. Bei dem Halten habe der Vater ihn, den Sohn, angepackt, bei welcher die 12jährige Schwester des jungen Seck, Helene, ausgerufen: „Peter, der Vater bringt Dich um!“, worauf Peter dem Vater einen Stoß gegeben derart, dass der Vater die kleine Treppe hinunterstürzte, mit dem Kopfe aufschlug und liegen blieb. Diese Angaben des Beschuldigten sind insofern beachtenswert, als das eben von dem Direktor der Marburger Chirurgischen Klinik eingegangene Obergutachten im Falle Seck auf dem Standpunkt steht, dass der Vater Seck nicht infolge der auf ihn von seinem Sohne Peter abgegebenen Schüsse sein Leben eingebüßt, sondern durch einen Schädelbruch, der auf einen Sturz zurückzuführen sei. Der Direktor der Chirurgischen Klinik vertritt demnach denselben Standpunkt, wie der Kreisarzt des Kreises Wiesbaden, Dr. Pils, dessen Gutachten gleichlautend dem Marburger ist. Hat der Landwirt Peter Seck 4. aber durch Aufschlagen seines Kopfes auf der Treppe den Tod gefunden, wie es die medizinischen Sachverständigen annehmen, so liegt weder Mord noch Tot- schlag vor, sondern Körperverlegung mit Todeserfolg. Und hier dürfte, wenn sich die Angaben des inhaftierten Seck bestätigen sollten, aus dem oben bereits Angeführten der Notwehrparagraph noch eine Hauptrolle in der Angelegenheit spielen. In der nächsten Schwurgerichtsperiode Ende Juni wird der Fall Seck voraussichtlich zur Behandlung kommen.
„Nassauer Anzeiger“ vom 9.6.1914*
*in neue deutsche Rechtschreibung transkribiert
3.
Die Verhandlung
Das Eisenbacher Familiendrama vor dem Schwurgericht
Wiesbaden, 1. Juli [1914]. Die entsetzliche Bluttat, welche sich am 5. Januar in dem kleinen Eisenbach bei Camberg ereignete, bei der ein junger Mann, der Landmann Peter Seck, [einen leiblichen Vater, den Landmann Peter Seck 4., ums Leben brachte, bildete den Gegenstand der heutigen Verhandlung. Der Angeklagte ist ein Bursche mit nicht unsympathisch berührenden Zügen. Das Publikum stürmte bei Öffnung der Türen geradezu den Saal. Zwei Schutzleute mussten in Aktion treten, um die Überfüllung des für das Publikum reservierten Raumes zu verhindern. Der Gerichtshof setzt sich aus Landgerichtsdirektor Beizert als Vorsitzenden, Landgerichtsrat Leonhart und Assessor Dr. Mehl als Beisitzer zusammen. Vertreter der Anklagebehörde ist Staatsanwaltschaftsrat Dr. Eich, Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Weber. Die Zahl der vorgeladenen Zeugen beläuft sich auf 18, die der Sachverständigen auf 6 (5 Ärzte und Gerichtschemiker Dr. Popp aus Frankfurt). Unter den Zeugen befinden sich die Mutter sowie zwei Schwestern des Angeklagten, eine der letzteren im Alter von etwa 5 Jahren. Der Angeklagte befindet sich seit dem 5. Januar in Untersuchungshaft. Er ist im Jahre 1890 in Eisenbach geboren, ledig und noch nicht vorbestraft. Nach dem er die Schule verlassen hatte, beschäftigte er sich bei seinem Vater, welcher ein kleines Bauerngut besaß, in der Landwirtschaft. Er ist der einzige Sohn der Familie und sollte dereinst den Hof übernehmen. In dem Hause herrschte nicht der beste Ton. Der Mann arbeitete fleißig und benahm sich seiner Familie gegenüber wie sich’s gehörte, wenn er nüchtern war. Leider aber war er vielfach, wenigstens einige Male in der Woche, betrunken, und dann kam es zu den unangenehmsten Szenen es und hagelte Schimpfworte auf sie ein. Sie wurde geschlagen, mit Fäusten, mit Stöcken, vielfach derart, dass das Blut in Strömen floss. So war es auch am Abend des 5. Januar. Die Ehefrau Seck war krank und lag seit einigen Wochen schon zu Bett. Mehrmals früher schon soll Seck Junior sich dritten gegenüber dahin geäußert haben, wenn es noch weiter so fortgehe, dann gebe es noch was. An dem hier in Rede stehenden Abend ging es in dem Seckschen Hause besonders turbulent zu. Die zwei Töchter flohen aus dem Hause, wurden jedoch vom Vater zurückgeholt. Dann soll der Vater mit einem Messer auf den Sohn zugegangen sein. Dieser begab sich in das Nachbarzimmer, holte dort einen geladen in einer Kommode aufbewahrten Revolver und gab nacheinander zwei Schüsse in der Richtung nach dem Kopf des Vaters ab. Dieser begab sich darauf in das Schlafzimmer seiner Frau zurück und soll sich dann wegbegeben haben, mit der ausgesprochenen Absicht, sich einen Dolch zu holen und die ganze Familie zusammenstechen zu wollen. Der Angeklagte will ihm gefolgt sein, um ihn zur Rückkehr zu bewegen. Der Vater aber versetzte ihm einen Stoß, welcher ihn zu Boden warf. Als der Vater sich dann nochmals an ihn heranmachte, schleuderte der Sohn ihn die Treppe herab und verarbeitete ihm dann denn Kopf mit seinem Revolver, dass das Blut herausspritzte. (Schluss folgt.)
„Hausfreund für den Golden Grund“ vom 4.7.1914*
*in neue deutsche Rechtschreibung transkribiert
4.
Das Urteil
Gerichtszeitung.
– Wiesbaden, 2. Juli. (Das Eisenbacher Familiendrama vor dem Schwurgericht.) Die entsetzliche Bluttat, die sich am 5. Januar d. J. in Eisenbach bei Camberg ereignete bei der ein junger Mann, der Landmann Peter seinen leiblichen Vater, den Landmann Peter Seck 4., um Leben brachte, bildete den Gegenstand der heutigen und gestrigen Verhandlung. Der Angeklagte Peter Seck, der seinem Äußeren nach einen günstigen Eindruck machte, ist von mittlerer Statur, nicht allzu stark. Die lange Haftzeit seit 8. Januar, hat seine Gesichtsfarbe stark gebleicht. Seck ist geboren am 24. November 1890, noch unbestraft, besuchte die Volksschule und war seit Entlassung aus derselben als Landwirt im eigenen Gütchen tätig. Peter Seck jr. wird beschuldigt, am Abend des 5. Jan. seinen Vater Peter Seck sen. vorsätzlich getötet zu haben, aber ohne Überlegung (§ 212, 215). Seck sen. war ein gewalttätiger, dem Trunke ergebener Mann, der einmal seine Schwiegermutter mit dem Messer gestochen und dieserhalb drei Monate Gefängnis abbüßen musste. Die Geschworenen verneinten die Fragen nach Totschlag und Totschlagsversuch, sondern sprachen den Angeklagten der Körperverlegung mit Todeserfolg schuldig. Das Urteil erging hierauf auf 3 Jahre Gefängnis.
„Nassauer Anzeiger“ vom 7.7.1914*
*in neue deutsche Rechtschreibung transkribiert
Man muss bedenken, dass es sich um eine Gerichtsverhandlung handelte und der Verurteilte seine Sicht der Dinge schilderte. Zu Lebzeiten wird er seinen Eisenbacher Zeitgenossen wohl nichts anderes erzählt haben als das, was im Nassauer Boten stand.
Vielleicht ist ihm durch die Tat die Teilnahme an den Kämpfen des Ersten Weltkrieges erspart geblieben.
Die meisten Zeitungen schrieben, dass Seck Junior zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, wobei die Untersuchungshaft sicherlich angerechnet und er bei guter Führung vielleicht schon nach 2 Jahren entlassen wurde. Aber das stand nicht in den Zeitungen. Vielleicht gibt es die Gerichtsakten noch im Archiv in Wiesbaden, aber ich will es dabei belassen. Die Zeitungsartikel waren aufschlussreich genug.