Angekommen in Eisenbach

Von Julia Hartmann

0
1229

„Eisenbach“ steht auf dem Schild, als sie sich dem Dorf nähern. Eisenbach soll ihre neue Heimat werden – unfreiwillig, abrupt, ohne Vorbereitung. Jetzt dämmert es auch den Letzten, sie ahnen, dass es keinen Weg mehr zurückgibt. Sie alle stammen aus dem sogenannten „Sudetenland“. Dieser politische Begriff umfasst alle ehemals deutsch besiedelten Gebiete in der damaligen Tschechoslowakischen Republik.

Nach den Gräueltaten der Nazis an der tschechischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges bleiben nun die deutschstämmigen Bewohner nicht unverschont. Vorausgegangen war zusätzlich der aufkommende Nationalismus im 19. Jahrhundert und dessen Radikalisierung, auch in der Tschechoslowakischen Republik. Mit den sogenannten Beneš-Dekreten wird der Weg freigemacht für eine vollständige Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakischen Republik, die beschönigend „Aussiedlung“ genannt wird. Dies betrifft etwa 3,4 Millionen Menschen. Ihnen wird ihre tschechische Staatsbürgerschaft entzogen, sie werden enteignet. Deutsche Universitäten müssen schließen. Allein die Zugehörigkeit zur deutschen Bevölkerungsgruppe reicht aus, um ihnen pauschal diese Rechte zu entziehen.

Die vertriebenen Familien nehmen nur das mit, was sie tragen können. Sie wissen nicht, was sie erwarten wird, wie ihre neue Heimat aussehen soll. Manche von ihnen erreichen nie das vorbestimmte Ziel: Sie kommen im Zuge der Vertreibung ums Leben. Genaue Opferzahlen liegen hierzu nicht vor.

Die meisten „Sudetendeutschen“ erreichen Bayern. Doch auch in Hessen werden rund 394.000 Vertriebene aus dem „Sudetenland“ aufgenommen. Die Statistik aus dem Jahr 1950 zeigt, dass jeder sechste Bürger Hessens (dies entspricht ca. 16,7 Prozent) ein Heimatvertriebener war. Bei jeder vierten Heirat in Hessen lässt sich feststellen, dass einer der beiden Ehepartner ein Vertriebener aus den deutschen Ostgebieten (Böhmen, Mähren, Schlesien, „Sudetenland“) war.

Insgesamt verzeichnet der Landkreis im Jahr 1949 – im Vergleich zu 1939 – eine Zunahme um 20.000 Einwohner, durch die Heimatvertriebenen (nicht alle aus dem „Sudetenland“). Die Volkszählung vom 13.09.1950 ergibt, dass 10.342 Personen im Landkreis Limburg-Weilburg noch 1939 in der Tschechoslowakei gelebt hatten.

Die „Sudetendeutschen“ kommen ab 1946 zumeist in Güterzügen mit wenig Gepäck. Erlaubt sind zwischen 30 und 50 Kilogramm Handgepäck. Sie haben eine stundenlange Fahrt hinter sich. Ein Eimer in der Ecke in den Güterwaggons ist für die Notdurft bereitgestellt.

Erste Ankunft: Bahnhof Weilburg. Dort wird der Zug geteilt, ein Teil wird nach Villmar ins Aufnahmelager gebracht. Dort findet die Verteilung innerhalb des Landkreises Limburg-Weilburg statt. Der andere Teil, der von Weilburg aus nach Weilmünster gebracht wird, wird schließlich im Oberlahnkreis verteilt. Eine im Weilburger Hotel „Lahnbahnhof“ angebrachte Gedenktafel von 2006 erinnert an diese Transporte, 295 an der Zahl.

Allein in Eisenbach werden insgesamt 246 Heimatvertriebene aufgenommen; die ersten von ihnen erreichen Eisenbach im Februar 1946. Laut Heimatbuch „750 Jahre Eisenbach“ ist es die Familie Konstantin Müller. Dies ließ sich allerdings nicht im Meldebuch der Gemeinde Eisenbach von 1930 bis 1949 verifizieren.

Vor allem viele Menschen aus Marienbad und Sternberg finden eine neue Heimat in Eisenbach. Der Anteil der Vertriebenen an der Wohnbevölkerung Eisenbachs beträgt zum Stichtag 06.06.1961 15 Prozent. Zum Vergleich: Haintchen werden mehr als 200 Vertriebene zugewiesen, darunter vor allem Menschen aus dem „Sudetenland“.

Der damalige Eisenbacher Bürgermeister Willi Köhler begrüßt die mittellosen Neuankömmlinge im Saalbau Gattinger und verspricht, für Wohnraum zu sorgen. Die ersten „Sudetendeutschen“ kommen im Saalbau unter, aber es werden mehr und mehr und eine andere Lösung muss her. In der Holzbaracke In der Stelzbach werden einige von ihnen einquartiert; die meisten jedoch auf die Eisenbacher Familien verteilt. Es muss zusammengerückt werden, um die Fremden aufzunehmen. Auch gegen den Willen der Eigentümer wurden die Vertriebenen in den privaten Wohnräumen einquartiert.

Ansichtskarte Eisenbachs mit der Holzbaracke In der Stelzbach (unten rechts) aus dem Jahr 1956 bis 1957

Die Nachkriegszeit trifft die Bevölkerung ohnehin hart. Und nun kommen noch mehr Menschen hinzu, die nach Arbeit suchen, Hunger haben, Wohnraum benötigen. Das Wirtschaftswunder ab Anfang der 1950er-Jahre spielt dieser Entwicklung aber glücklich in die Hände: Es kommt zu einem Konjunkturaufschwung.

Da die Vertriebenen vor allem dezentral verteilt werden und in Dörfern leben, gelingt es, eine Ghettoisierung zu verhindern. Allerdings ist es im ländlichen Raum schwieriger, Arbeit für diese Menschen zu finden:

„In Unkenntnis der Zahl der zu erwartenden Flüchtlinge wurden anfangs die ankommenden Menschen in die Randgebiete des Kreises eingewiesen. […] Dabei ergab sich – zufällig und ungewollt -, daß arbeitsfähige Personen vielfach in den Gemeinden des Westerwaldes und Taunus untergebracht wurden, wo zwar Wohnraum, aber schlechte oder keine Verkehrsverbindungen und keine Arbeit vorhanden war. Dagegen kamen Rentner und Arbeitsunfähige oftmals in die größeren und verkehrsgünstig gelegenen Orte. […] Es ging deshalb nunmehr darum, durch Umsetzungen der Vertriebenen zum Arbeitsplatz ihnen dort günstigen Wohnraum zu beschaffen und sie auch schnellstens in Arbeit zu bringen.“

Aus: Dokumentation über die Aufnahme, Eingliederung und das Wirken der Vertriebenen im Kreis Limburg-Weilburg, S. 38.

Heimatvertriebene Bauern finden Arbeit in der Industrie, im Gewerbe oder in Handwerksbetrieben. Für Eisenbach wird in der Dokumentation des Landkreises festgehalten, dass in Eisenbach eine Vollbauernstelle gepachtet wird.

1951 ruft die Hessische Landesregierung unter Ministerpräsident Zinn den sogenannten „Hessenplan“ aus, einen Aktionsplan zur besseren Eingliederung der Vertriebenen. Das Ziel ist es, Arbeits- und Wohnort zusammenzuführen. Heimatvertriebene werden umgesiedelt oder durch finanzielle Investitionen Arbeitsplätze geschaffen (beispielsweise in Nordhessen). Das Ergebnis: Ca. 100.000 Vertriebene können mit Arbeit und Wohnung versorgt werden.

Ohne viel Hab und Gut, enteignet in der ehemaligen Heimat, starten die „Sudetendeutschen“ gezwungenermaßen den Neuanfang. Sie werden im Laufe der Jahre zu Eisenbachern, tragen in ihren Herzen jedoch immer ein schmerzendes Stück alte Heimat mit.

„Heimat ist da, wo wir Wurzeln schlagen,
wohin uns auch der wechselvolle Lauf des Lebens führen mag.“

Cilly Plescher, 1984, ursprünglich aus dem Egerland
Aus: Heimatbuch „750 Jahre Eisenbach“

Eisenbacher Meldebuch von 1930 bis 1949

Laut Heimatbuch „750 Jahre Eisenbach“ waren es insgesamt 246 Heimatvertriebene, die in Eisenbach aufgenommen wurden. Diese Zahl stützt sich auf die Angabe des ehemaligen Bürgermeisters Willi Köhler, der von den US-Amerikanern eingesetzt wurde. Eine genaue Zahl für Vertriebene aus dem „Sudetenland“ ist im Artikel nicht ausgewiesen.

Im Zuge der Recherche war es möglich, das amtliche Meldebuch Eisenbachs vom 01.01.1930 bis 31.12.1949 (ab Ende des Zweiten Weltkrieges bis Ende 1949) auf der Gemeinde Selters einzusehen. Es ist allerdings zu vermuten, dass die An- und Abmeldungen der „Sudetendeutschen“ und der anderen Heimatvertriebenen nicht vollständig sind. Dennoch gibt das Meldebuch einen Eindruck, wie viele Vertriebene aus dem heutigen Tschechien ihren Weg nach Eisenbach fanden, zeigt beispielsweise die Altersstruktur der erfassten Personen sowie deren Berufsstand auf:

Insgesamt können 101 Personen ermittelt werden, die (zeitweise) in Eisenbach untergebracht waren und dort gelebt haben. Darunter sind 18 Minderjährige, das jüngste Kind ist am 31. Januar 1945 geboren. Bei zwei der Kinder ist Berlin als Geburtsort angegeben, die Eltern stammen jedoch aus Bernsdorf (heute: Bernartice) und Graslitz (heute: Kraslice).

Die meisten Vertriebenen kommen aus der Gegend um Marienbad (22 Personen), Brüx (13 Personen) oder Karlsbad (10 Personen).
Der Großteil der 44 weiblichen „Sudetendeutschen“ gibt an, Hausfrau zu sein. Unter den Frauen sind jedoch auch sechs Haushälterinnen bzw. Hausgehilfinnen, eine Schneiderin und eine Kontoristin. Auch Praktikantinnen, darunter eine Laborpraktikantin, finden sich im amtlichen Meldebuch Eisenbachs.

Einige der männlichen Vertriebenen geben an, von Beruf Landwirt (7 Personen) oder landwirtschaftlicher Arbeiter bzw. Gehilfe zu sein (9 Personen). Auch einige Handwerksberufe werden von den Heimatvertriebenen aus dem heutigen Tschechien genannt: Kutscher, Tischler, Friseur (2), Huf- und Wagenschmiedgeselle, Fleischer, Autoschlosser (2), Maurer, Mechaniker, Wirker und Sattler. Weiter finden sich zwei Ärzte unter den Heimatvertriebenen aus dem „Sudetenland“, ein Justizinspektor, Kaufmänner/kaufmännische Angestellte bzw. Händler (8 Personen), ein Kochangestellter sowie zwei Kraftfahrer, ein Verwalter, ein Ingenieur und ein Telegrafenwerkführer.

Vier Soldaten aus dem „Sudetenland“ – Heimkehrer aus Russland, die aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen wurden – gelangen 1949 nach Eisenbach: Johann Potsch (geb. 19.07.1904) aus Schmiedsau (Kreis Bärn), Anton Ihl (geb. 30.05.1925) aus Pistau (Kreis Marienbad), Ernst Jankovsky (geb. 08.07.1913) aus Sternberg und Adelhelm Helmschmied (geb. 19.01.1921) aus Eichwald. Einberufen in den Kriegsdienst, haben sie ihre alte Heimat verlassen müssen; als der Krieg vorbei ist und sie aus russischer Gefangenschaft heimkehren dürfen, gibt es die „alte Heimat“ nicht mehr. Namensgleichheit findet sich bei Adelhelm Helmschmied: So sind (vermutlich seine Eltern) Adelhelm (geb. 13.09.1889) und Anna Helmschmied (geb. 14.03.1893) bereits im Februar 1946 nach Eisenbach gekommen. Der Nachname „Potsch“ lässt sich auch ein zweites Mal im Eisenbacher Meldebuch finden: So verzeichnet es einen Johann Potsch (geb. 27.02.1929) in Hermsdorf, der sich am 26. Februar 1947 abmeldet, um nach Ellar (Kreis Limburg-Weilburg) zu ziehen. Möglicherweise handelt es sich hierbei um einen Verwandten des o.g. Rückkehrers Johann Potsch.

Recherche: Julia Hartmann und Christian Heinz

Quellen:

Kreisausschuss des Landkreises Limburg-Weilburg in Verbindung mit dem Bund vertriebener Deutscher e. V. (Hrsg.): Dokumentation über die Aufnahme, Eingliederung und das Wirken der Vertriebenen im Kreis Limburg-Weilburg. 1946-1986. 40 Jahre Vertreibung.

Otto Langels (2020): Die Vertreibung der Sudetendeutschen. Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/benes-dekrete-die-vertreibung-der-sudetendeutschen-100.html (letzter Zugriff: 14.03.2025)

Historisches Lexikon Bayerns: Flüchtlinge und Vertriebene. https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Fl%C3%BCchtlinge_und_Vertriebene (letzter Zugriff: 14.03.2025)

Manfred Horz (2018): Im Viehwaggon nach Weilburg. Nassauische Neue Presse. 20.11.2018. https://www.fnp.de/lokales/limburg-weilburg/weilburg-ort893442/viehwaggon-nach-weilburg-10647165.html (letzter Zugriff: 14.03.2025)

Cilly Plescher (1984): Erinnerungen eines „Flüchtlingsmädchens“. 750 Jahre Eisenbach. Heimatbuch. S. 127-129

Willi Köhler/Rainer Schorr (1984): Von der „Stunde Null“ bis zum Ende der Selbständigkeit. Eisenbach von 1945 bis 1974. 750 Jahre Eisenbach. Heimatbuch. S.41.

Antje Schmelcher (2016): Ohne Willkommenskultur. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 09.06.2016. https://www.faz.net/aktuell/politik/vertriebene-nach-1945-ohne-willkommenskultur-14277408.html (letzter Zugriff: 14.03.2025)

Doris Liebermann (2016): Die organisierte Vertreibung der Sudetendeutschen. Deutschlandfunk Kultur. 25.01.2016. https://www.deutschlandfunkkultur.de/vor-70-jahren-die-organisierte-vertreibung-der-102.html (letzter Zugriff: 14.03.2025)

Frank-Lothar Kroll (2017): Geschichte Hessens. C.H. Beck. Sonderauflage für die Hessische Landeszentrale für politische Bildung.

Sudetendeutsche Landsmannschaft Bundesverband e. V.: Die Sudetendeutschen. Unsere Geschichte. Unsere Kultur. Unser Leben.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.