Zurück ins Jahr 1945. Tschöppern (tschechisch: Čepirohy) war im 20. Jahrhundert ein kleines Dorf und gehörte zum Landkreis Brüx. 1930 lebten dort 677 Menschen. Es war landwirtschaftlich geprägt, doch durch die Industrialisierung (Kohleförderung) hatte sich die Einwohnerzahl von Tschöppern bis 1930 verdoppelt.

Bruno Glöckner lebte mit seiner Mutter Pauline und seinen Geschwistern Amalia, Marianne und Eduard in Tschöppern. Der Vater Emil war nun – nach dem Zweiten Weltkrieg – in Gefangenschaft. Brunos älterer Bruder Karl war im Krieg verwundet worden, durch eine Schussverletzung verlor er ein Auge, und wurde nun in einem Lazarett bei Dresden gepflegt.

Bruno lebte mit seiner Familie auf einem Bauernhof. Die Kinder mussten mit anpacken, es war auch viel zu tun: Die Familie hatte Kühe, Schweine, Hasen, Katzen und Hunde zu versorgen – und ein Pferd. „Bis zum Abend musste alles gemacht sein“, erinnert sich Bruno Glöckner auch heute noch. Als die Deutschen kamen und die Tschechoslowakei okkupierten, „tauschte“ die deutsche Wehrmacht das junge, kräftige Arbeitspferd der Familie gegen ein altes Militärpferd, das schon seine besten Tage hinter sich hatte. Als dieses jedoch am Kasernengelände, seiner früheren „Heimat“ vorbeikam, erinnerte es sich und lief dann jedes Mal mit stolzem Schritt daran vorbei, erzählt Bruno Glöckner schmunzelnd.

In Brüx ging Bruno in eine große Schule, ein halbes Jahr lang nahm er auch Geigenunterricht.

Dann starb die große Schwester Marianne. Nach diesem Schicksalsschlag und nur 14 Tage später wurde die Familie urplötzlich aus ihrem Alltag, ihrem Dorf, ihrer Heimat gerissen: Sie mussten Tschöppern und ihr Gut verlassen. Die Tschechen vertrieben die Eigentümer der Bauernhöfe und Häuser. Die Familie Glöckner kam wie alle anderen zunächst zu einer Sammelunterkunft, dann wurde sie mit einem Zug – mit einer Lok vorne und einer hinten, dazwischen 50 Güterwaggons, die mit Stroh ausgelegt waren – nach Deutschland gebracht. Das Ziel: ungewiss.
Nach ihrer Ankunft am Villmarer Bahnhof wurden sie in einzelne Orte im Landkreis aufgeteilt. Bruno kam mit Mutter Pauline, Amalia und Eduard nach Eisenbach. Sie wurden einer Familie in der Grabenstraße zugeteilt, von dort zogen sie etwas später noch einmal um, blieben aber in der Grabenstraße.
Der Vater Emil kehrte nicht mehr zur Familie zurück, er überwarf sich mit der Mutter. Nach seiner Gefangenschaft in Landsberg am Lech arbeitete er bei Audi in Ingolstadt. Bruder Karl, der im Krieg verwundet worden war, heiratete seine Krankenschwester Inge und blieb in Döbeln, in der Nähe von Dresden. Bruno war nun der älteste Mann im Haus. Die Camberger Schule, die er erst besuchte, musste er abbrechen, um eine Lehre zum Bauern machen. Die Mutter war weiterhin überzeugt, sie könnten irgendwann doch wieder zurück nach Hause, nach Tschöppern, auf ihren Bauernhof.

An die Schulzeit in Camberg denkt Bruno Glöckner noch gerne zurück: Er konnte sehr gut malen und zeichnen. Für seine Mitschüler, die sich damit schwerer taten, fertigte er im Kunstunterricht daher – so, dass es der Lehrer nicht merken konnte – „deren“ Bilder an. Die Schulkameraden erhielten gute Noten. Im Gegenzug gab’s dann für Bruno ein Butterbrot.
Bauer sollte er aber werden, so der Wunsch seiner Mutter: Nach seiner Lehre in Oberselters half er noch sechs weitere Jahre in Dauborn auf einem Bauernhof mit. Doch als Bauer verdiente er nicht viel. Seine Fußballfreunde in Eisenbach rieten ihm deshalb dazu, doch lieber auf dem Bau zu arbeiten: „Komm‘ doch mit!“ Gesagt, getan. Wie so viele Eisenbacher arbeitete Bruno fortan im Raum Köln. Als Verputzer. Später war Bruno Glöckner bis zur Rente bei einem Verlag in Frankfurt beschäftigt.


Seine Schwester Amalia starb, wie schon zuvor die älteste Schwester Marianne, früh. Sein Bruder Eduard wohnt heute in Niederselters. Bruno Glöckner ist in Eisenbach heimisch geworden, hat geheiratet und hier eine Familie gegründet.
Ein Besuch der alten Heimat war Bruno Glöckner nicht vergönnt: Tschöppern, die umliegenden Dörfer, selbst weite Teile der Altstadt von Brüx existieren heute nicht mehr: Sie fielen dem Braunkohletagebau zum Opfer. So wurde ab 1967 die Altstadt von Brüx abgerissen, die Stadtbewohner in eine neue, sozialistische Plattenbausiedlung untergebracht. Heute hat Brüx ca. 67.000 Einwohner. Das Dorf Tschöppern wurde größtenteils von 1968 bis 1972 abgerissen. In der damals gegründeten Neuansiedlung der Dorfbewohner leben heute rund 470 Menschen (Zählung aus dem Jahr 2001).
Quellen:
Bruno Glöckner: Erinnerungen, April 2025
Zentrum gegen Vertreibung: Das alte Brüx – Opfer des Braunkohlebergbaus. https://www.ausstellung-verschwundeneorte.de/ursachen-des-verschwindens/enteignung-und-planwirtschaft#c767 (letzter Zugriff: 07.04.2025)
Sudetengebiete.de: Brüx. https://sudetengebiete.de/bruex/#:~:text=Nach%20dem%20Zweiten%20Weltkrieg%20wurden%20nahezu%20die%20gesamte,Es%20erfolgte%20keine%20Abgeltung%20f%C3%BCr%20das%20eingezogene%20Verm%C3%B6gen. (letzter Zugriff: 07.04.2025)
Wikipedia.de: Čepirohy. https://de.wikipedia.org/wiki/%C4%8Cepirohy (letzter Zugriff: 07.04.2025)